Musica non Grata am Nationaltheater Prag

Ostrava ist eine Stadt an der Nordostgrenze Tschechiens, liegt etwas abseits ganze zehn Kilometer südwestlich der Grenze zu Polen und 50 Kilometer nordwestlich der Grenze zur Slowakei. Bis 1941 hieß die Stadt Mährisch Ostrau. Auch wenn die meisten Kohlegruben inzwischen geschlossen sind, ist die Gegend noch immer ein Zentrum der Schwerindustrie, früher extrem belastet von Luftverschmutzung. Trotz reizvoller Ecken im historischen Zentrum hat die 300.000-Einwohner-Stadt, die im Zweiten Weltkrieg wegen ihrer Industrie zum Ziel alliierter Luftangriffe war, auf den ersten Blick einen eher rauen Charme. Auf den zweiten ist eine erstaunliche Fülle kultureller Einrichtungen zu entdecken, darunter die Janáček-Philharmonie und das Mährisch-Schlesische Nationaltheater, zu dem das Antonín Dvořák-Theater mit seinem neobarocken Opernhaus und das Jiří-Myron-Theater gehören.

Das sorgsam herausgeputzte Opernhaus kooperiert mit dem Nationaltheater Prag bei dem Projekt „Musica non Grata“, das unglücklicherweise kurz vor der Pandemie an den Start ging. Diese hat ja so manches kulturelles Großprojekt vereitelt und dem Kulturbetrieb bekanntlich insgesamt enorm geschadet; an den Theater-und Opernbühnen verursachte der Corona-Stillstand einen erheblichen Produktions-Rückstau, der noch längst nicht abgearbeitet ist. Besonders empfindlich traf es zeitlich stark begrenzte Projekte, die kaum „nachrutschen“, sondern zumeist quasi ausfallen mussten. Ein bisschen so ist es auch mit dem hoch ambitionierten Projekt „Musica non Grata“.

Ehrgeiziges Musikprojekt

Im Zentrum des Projekts, organisiert vom Nationaltheater Prag und finanziell unterstützt von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, stehen Werke, die das Prager Musikleben zwischen 1918 und 1938 prägten. Damals pflegte das „Neues Deutsches Theater“ genannte Opernhaus oberhalb des Wenzelsplatz ein Repertoire, das sich bewusst absetzte von der tschechisch-slawischen Tradition des an der Moldau gelegenen Nationaltheaters. Die deutsch-jüdische Gemeinde in Prag baute jenes „Deutsche Theater“ auf, das neben dem italienischen und dem deutschen Repertoire vor allem viel Zeitgenössisches zeigte und Werke von Franz Schreker, Erwin Schulhoff, Rudolf Karel, Ernst Krenek, Jaromír Weinberger, Kurt Weill und Arnold Schönberg präsentierte oder sogar aus der Taufe hob. Auch Musik der „Theresienstädter“ Komponisten Pavel Haas, Hans Krása, Gideon Klein und Viktor Ullmann erklang an dem heute „Staatsoper“ genannten Haus, das nach aufwändiger Sanierung im Januar 2020 wiedereröffnet wurde. Sechzehn Jahre lang (von 1911 bis 1927) war Alexander Zemlinsky dort der musikalische Chef und nun kam – im Rahmen des Projekts „Musica non grata“ – eine Rarität aus seiner Feder zur (durch die Pandemie verspäteten Premiere): „Kleider machen Leute“ nach Gottfried Kellers Novelle aus dem Zyklus „Die Leute von Seldwyla“.

Eine knappe Woche vor der Prager Premiere jedoch hob sich erstmal in Ostrava der Vorhang zu einem Opern-Doppel mit zwei Werken von Viktor Ullmann: „Der zerbrochene Krug“ nach Kleists Lustspiel, komponiert 1941–1942 und nur einige Wochen vor der Deportation des Komponisten ins Theresienstädter Ghetto vollendet, sowie „Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung“, entstanden Jahren 1943–1944 im Ghetto Theresienstadt.

Ullmann studierte in Wien bei Schönberg, 1919 zog er nach Prag, um bis 1927 Dirigent am „Neuen Deutschen Theater“ zu werden. Sein Mentor dort war Zemlinsky. Sein Schaffen ab Mitte der 1930er Jahre war von Anregungen Schönbergs geprägt, aber auch durch die Auseinandersetzung mit Alban Bergs „Wozzeck“. Ullmann bevorzugte eine Harmonik zwischen Tonalität und Atonalität (er selbst sprach von „Polytonalität“), sein Stil ist äußerst knapp, lakonisch, anspielungsreich und formal virtuos verdichtet. Spätromantik mischt sich elegant mit Jazz-Elementen und widerspenstigen Kurt-Weill-Rhythmen. Eine unglaublich kompakte, wunderbar funktionierende Theatermusik, der bei allem musikalischem Furor dennoch eine Brecht’sche Distanz eingeschrieben scheint.

Operndoppelabend: „Der zerbrochene Krug“/„Der Kaiser von Atlantis“

In Ostrava sind bei der dritten Vorstellung die Reihen zu etwa zwei Dritteln besetzt, ein interessiertes, mittelaltes Publikum, das sich zu kennen scheint und in großer Zahl die Einführung besucht. Die beiden Einakter werden vom slowenischen Regisseur und Bühnenbildner Rocc auf die Bühne gebracht, die aufeinander Bezug nehmenden Kulissen und Kostüme (Belinda Radulovic) setzen vor überwiegend in schlichten Grau-Schwarz gehaltenem Hintergrund sparsame Akzente, einige Video-Projektionen lockern das eher karge Setting auf. In beiden Opern – vor allem bei dem personalstarken Ensemble-Stück „Der zerbrochene Krug“ – setzt die Regie auf leicht verfremdende Überzeichnungs-Effekte, Anleihen bei der Commedia dell’arte und eine Betonung von stilisierender Künstlichkeit. Das ist ungeheuer kurzweilig, zumal die Musik – am Pult steht Nachdirigent Maroš Potokár – ein hohes Tempo hält. Das große und in der Summe hervorragende Ensemble beeindruckt, stellvertretend seien die Hauptrollen genannt: Bassbariton Martin Gurbaľ als Dorfrichter Adam und Bariton Boris Pryl als Kaiser Overall. Großer Beifall des gesetzten Publikums für sicherlich ungewohnte Töne.

Alexander Zemlinskys „Kleider machen Leute“

Tags darauf dann in Prag die Premiere von Zemlinskys „Kleider machen Leute“. Diese Aufführung ist in jeder Hinsicht ein Glücksfall, Zemlinskys Werk ist ein konzis gefügtes, auf hoher Betriebstemperatur sich haltendes Musiktheater, das auch (bewusst platzierte) Brüche aushält und – wie Ullmann – eine famose Theatermusik ist. Intendant Per Boye Hansen, bestens vernetzt in der internationalen Opernszene, hat mit Jetske Mijnssen als Regisseurin, Giedrė Šlekytė am Pult, Herbert Murauer als Bühnenbildner (der früher für Christof Loy baute) und Julia Katharina Berndt als Kostümausstatterin ein schlagkräftiges Team engagiert, Dustin Kleins schmissige Choreografie komplettiert die Mannschaft, die durch souverän glänzendes Handwerk besticht. Die Geschichte ist schnell erzählt: Der arbeitslose, aber nobel gekleidete Schneidergeselle Wenzel Strapinski aus Seldwyla wird von einem Kutscher netterweise mitgenommen in die Nachbarstadt Goldach. Als er den Kutscher nicht bezahlt, spielt dieser ihm einen Streich, indem er den ob des Schneiders kostbaren Mantels staunenden Goldachern erzählt, Strapinski sei ein polnischer Graf. Das macht Furore, man bemüht sich um den vermeintlichen Grafen, der von der Dynamik der Lüge zunehmend mitgerissen wird und es nicht schafft, sie aufzuklären. In der Gloriole des falschen Grafen erblickt Amtstochter Nettchen in ihm den Mann ihrer Träume und verliebt sich in ihn, was Wenzel erwidert. Bei der Verlobungsfeier kommt die Wahrheit ans Licht und Wenzel will fliehen. Aber das ernüchterte Nettchen steht trotzdem zu ihm und erkennt die Aufrichtigkeit seiner Liebe.

Herbert Murauer hat in Prag einen großen Zylinder auf die Drehbühne gebaut, die viel in Bewegung ist und in filmischer Ästhetik mal schneller, mal langsamer für Zeitlupen oder – Beschleunigungseffekte sorgt. Der wuchtige Zylinder und schmale Spielfläche am vorderen Bühnenrand sorgen in der eher trockenen, sehr direkten Akustik für perfekte Verständlichkeit, der Abstrahleffekt des Zylinders entlastet die Sänger, wenn Giedrė Šlekytė im Graben ein wenig die spätromantischen Klangschrausch-Gäule durchgehen. Zemlinskys Partitur überrascht mit ihrer stilistischen Virtuosität, die zwischen irisierend-sinnlichen Klängen, Moritaten- Chanson-Tonfall, operettenhaftem Sentiment und dramatischen Ausbrüchen changiert. Besonders erstaunlich sind die ausgiebigen Instrumental-Zwischenspiele, die in ihrer Stimmungsmalerei an Brittens „Sea Interludes“ aus „Peter Grimes“, aber auch ein bisschen an den Beisel-Akt in Straus‘ „Rosenkavalier“ erinnern und in einer Mischung aus Lebenden Bildern und choreografischen Einlagen von der Regie souverän nicht nur überbrückt, sondern sinnfällig gestaltet werden.

Aus dem famosen Cast ragen Joseph Dennis‘ Wenzel Strapinski und Jana Siberas Nettchen heraus, alle weiteren, zahlreichen und anspruchsvollen Rollen sind auf Augenhöhe besetzt. In der Schlusskurve setzt Zemlinsky einen bemerkenswerten Bruch, wenn plötzlich der unterhaltsame Tonfall beim erkennenden Duett von Wenzel und Nettchen ins Tragische kippt. Da wähnt man sich plötzlich in der todverliebten Schwüle von Korngolds „Toter Stadt“. Aber Zemlinsky kriegt die Kurve, ohne rot zu werden und in der Schlussszene legt das Paar ein schmissig-jazziges Musical-Tänzchen hin, das an die legendäre Tanzszene des Hollywood-Streifens „La La Land“ erinnert. Großer Jubel in der ehrwürdigen Staatsoper. Hoffentlich findet diese Ausgrabung Nachahmer.

Spielplanerneuerung

Intendant Per Boye Hansen ist trotz der Pandemie hoch zufrieden mit dem Projekt „Musica non Grata“, das sich nun durch den Produktionsstau bis in den April 2024 erstrecken wird. Bis auf eine Oper von Martinu habe er alles verwirklichen können, erzählt Hansen in seinem Büro mit Blick auf den Wenzelsplatz. „Wir haben sieben große Opern produziert, das Projekt findet große Resonanz, die Zuschauerzahlen steigen ständig.“ Sogar im sonst mauen Januar habe die Auslastung bei 27 Vorstellungen um die 85 Prozent gelegen berichtet er. „Unser Anliegen mit ,Musica non Grata‘ war, dass wir zeigen wollten, was für eine tolle, weltoffene Stadt Prag damals gewesen ist. Die deutschen Komponisten der verfemten Musik bringt man bis heute kaum mit Prag in Verbindung und das wollten wir ändern.“

Die damalige Konkurrenz zwischen dem „Neuen Deutschen Theater“ (heute:„Staatsoper“) und der Nationaloper an der Moldau ist inzwischen obsolet, Per Boye Hansen ist heute Chef von allen drei Opernhäusern Prags, zu denen noch das alte Ständetheater gehört, in dem Mozarts „Don Giovanni“ zur Uraufführung kam. Auch nach Jahren in Prag ist Hansen immer noch beeindruckt davon, „wie stark die Musik in der Bevölkerung verwurzelt ist, wie stark die klassische Musik und Oper einen Platz hat in den Herzen der Menschen. Sie ist in allen Gesellschaftsschichten etabliert, denn die Musik war auch in den kleinen Städten und Dörfern tief verwurzelt in der Bevölkerung.“

Bislang sei der Spielplan ziemlich konservativ gewesen, auch das habe er mit dem „Musica non Grata“-Projekt ändern wollen, sagt Hansen. „Werke von Schulhoff waren der Gipfel, auch Viktor Ullmann, das waren ungewohnte Klänge für die Prager. Aber beides kam sehr gut an.“ Hansen will Prag generell als Opernstadt stärker ins Bewusstsein des auch reisenden Opernpublikums rücken: „Wir sind ja im Zentrum von Europa. Und allmählich wird wahrgenommen, was hier passiert.“ In wenigen Tagen startet das nächste Projekt von „Musica non Grata“, die Reihe „Frauen in der Musik“: Vorgestellt werden tschechische Komponistinnen, die im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die neue soziale und politische Ordnung reagierten. Zu entdecken sind Werke von zumindest im Westen Europas weitgehend unbekannten Komponistinnen wie Julie Reisserová, Vítězslava Kaprálová, Sláva Vorlová, Elizabeth Maconchy, Dora Pejačević und Lena Stein-Schneider. Einige Werke der Kompositionen sind nach Jahrzehnten erstmals wieder zu hören, oder kommen sogar erst zur Uraufführung.