Das liegt auch an den starken Persönlichkeiten: Yuliya Gerbyna ist seit langem Étoile der Kompanie. Als Eltern-Opfer Julia halftert sie die Fotokamera wie eine Schusswaffe, bevor sie sich selbst in Formaldehyd legt und so wenigstens der physischen Hülle ihrer kühlen Seele artifizielle und vielleicht sogar spirituelle Dauer verleiht. Als Resultat einer narzisstisch geprägten Künstlerbeziehung wollte die Mutter Julia ertränken, denn ihr Vater hatte nach seiner Schaffenskrise eine Andere.
Das Geschehen spitzt sich freudianisch zu: Julias Vater ( Aurelian Child-de Brocas) ähnelt seinem Julia erfolglos anbaggernden Mitarbeiter Johannes (Johan Plaitano). Die Julia als Klientin und Kameradin begehrende Kuratorin Carola (Carla Wieden Dobón) ist im bordeaux-farbenen Hosenanzug wie eine Zwillingsschwester der blonden und dauerkühlen Protagonistin in Blau. Vor im Querschnitt mitsamt scharfen Zähnen abgebildeten Zwerghai-Hechten zelebriert die Kompanie kantige Bewegungen mit weißen Overalls und Astronauten-Appeal. Die erotischen Szenen haben eher kühlen Chic. Offenbar besteht die Kunstszene aus Egomanen, die sich mit dünner Folie vor der eigenen Physis und der anderer mit Schönheit abschotten. So wird Julias innere Nicht-Geschichte zum Teil plausibel.
Die Musik übertönt die Geschichte
Die von der Staatskapelle Halle unter José Miguel Esandi ins Auditorium gesendete Musik ist vom Allerfeinsten, unter anderem Sätze aus den Sinfonien von Samuel Barber. Der Tanz-und Schlagzeug-Hauskomponist Ivo Nitsche liefert steile Übergänge von hoher Expressivität. Weitere Stücke von Casimir von Oettingen bringen expressive Wallungen. Manchmal chillt es. Dorota Karolczaks stylishe Galerie-Deko und die Kostüme von Olo Křížová behalten im fantasielosen Flächenlicht von Jonas Metzig abweisenden Glanz. Anke Tornows Unterwasser-Video und Yan Revazov Video-Zutaten liefern wenig Ergänzendes zum Plot: Zwei Figuren welche die fragilen und falschen „Körperwelten“ zur Quadratur eines Seelenvakuums hätten verdichten können, wurden um ihre Wirkungen gebracht. Patrick Michael Doe spielt einen Menschen im falschen Geschlechtskörper und hatte alle Voraussetzungen zu einer mythischen Figur, lieferte dann aber in erster Linie das Quotenanhängsel für erfolgreich praktizierte Diversität.
Und dann kommt immer wieder Sie: Romelia Lichtenstein singt und siegt auf ganz breiter Linie über alle psychischen Ausnüchterungen. Die Mutter Julias hätte sie spielen sollen und schwebt trotzdem neben der Haupthandlung. Wie man Sänger zum Tanzen bringt und musikalisch nutzen kann, hatte Stefano Giannetti in Dessau am Abend davor bei der Uraufführung von „Ritus“ weitaus beeindruckender versinnfälligt. Lichtenstein liefert in Halle aber viel mehr als die von Sedláček ausgewählten Arien – nicht nur aus dem Repertoire von Maria Callas. Die meisten Partien hat sie in ihrer langen, bewundernswerten Karriere am Opernhaus Halle und andernorts gesungen, dem Haus am Universitätsring damit über mehrere Intendanzen ein Glanzlicht nach dem anderen aufgesteckt.
Nun beantwortet sie die Frage, ob das Theater und die Kunst heute noch Heldinnen oder Helden braucht, mit einem strahlenden, eindeutigen Ja. Lichtenstein setzt in den tückischen „Pace“-Rufen aus Verdis „Die Macht des Schicksals“ gefährlich sphärische Glanztöne und durchdringt das in „Philadelphia“ zur Schwulenhymne inthronisierte Bravourstück „La mamma morta“ mit bebender Emotion. Vor diesen ausdrucksintensiven Seelendramen verblasst Julias Zaudern zwangsläufig zur Bagatelle. Musik, Form und Ästhetik stimmen bei dieser Uraufführung. Aber für die stummen Hilfeschreie aus Julias Depression und das als Kompanie bestens aufgestellte Ballett Halle fand Sedláček keine angemessene Sprache.