Lehrstunde in Zeitgeschichte
Die Geschichte um die naive Natalie (sehr einnehmend: Helena Charlotte Sigal) ist schnell erzählt und trägt doch das Bühnengeschehen, bei einer Pause, über drei Stunden. Wir folgen der Protagonistin auf ihrem Weg durch Westberlin, das sie gerade aus der Bundesrepublik erreicht hat. Sie hat sich in den Berliner Musiker Jonny verliebt, von dem sie ein Kind erwartet. Auf ihrer Suche nach ihm entlang der U-Bahn-Linie 1 zeigt sich ihr das Sozialgefüge der Großstadt: Hedonisten und Spießer, Punks und Junkies, Obdachlose und Gewinnertypen (liebevoll kostümiert von Mascha Schubert). Für einen Höhepunkt sorgen die „Wilmersdorfer Witwen“, außen glanzvoll, innen braun. Ludwig muss sich nicht vorwerfen lassen, brisante Themen – Suizide, Abhängigkeit, Rassismus sind einige davon – ausgespart zu haben. Aber es ist nicht zuletzt dem Genre Musical geschuldet, dass die sozialen Problemlagen, die auch in der Inszenierung zum Tragen kommen, häufig eine Verkitschung erfahren.
Die Möglichkeiten zu Aktualisierungen hat Egloff kaum wahrgenommen. So gerät „Linie 1“ auch zu einer – sehr heiteren! – Lehrstunde in Zeitgeschichte, was der Arbeit keinen Abbruch tut. Dass der Großteil eines 16-jährigen Publikums aber weiß, wer Humphrey Bogart ist, oder etwas mit der Formulierung „die Flocke machen“ anfangen kann, muss man bezweifeln. Kleinere Eingriffe am Text hätten hier große Wirkung entfalten können. Nach dem großen Finale geht man allen Vorbehalten zum Trotz fast beschwingt aus diesem temporeichen U-Bahn-Ritt. Nur ein paar Meter vor den Türen des Grips wartet bereits der öffentliche Nahverkehr – allerdings die wenig abenteuerliche Linie 9, in der man kaum gestört wird, während man die eine oder andere Szene nachwirken lässt.