Szene aus "Silent Screen"

Was das Leben zusammenhält

Sol Léon und Paul Lightfoot: „Silent Screen“ / „Schmetterling“

Theater:Bayerische Staatsoper, Premiere:31.03.2023Komponist(in):Max Richter, Philip Glass

Liebe ist der Kitt, der dem Leben Kraft und Richtung gibt. Wie durch ein Pflaster werden die Schmerzen der Vergänglichkeit gelindert und menschliche Beziehungen über den Verlust hinaus wertvoll gemacht. Das Choreografen-Duo Sol Léon und Paul Lightfoot hat in zwei seiner Stücke – „Silent Screen“ aus dem Jahr 2005 und „Schmetterling“, das 2010 vom Nederlands Dans Theater uraufgeführt wurde – so viel von all diesem gepackt, dass man den neuen Premieren-Doppelabend des Bayerischen Staatsballetts nur reich beschenkt und eigenartig beglückt verlassen kann.

Dies kommt fast einem Paradox gleich. Denn beide Choreografien, die allein schon visuell in ihrer Ausstattung bis auf wenige Ausnahmen in Schwarzweiß gehalten sind, thematisieren inhaltlich (über weite Strecken schwer nacherzählbar) Tiefgründiges. Mitunter mag das von eigenen Erfahrungen ihrer Schöpfer geprägt sein. Ohne einem stringenten roten Erzählfaden zu folgen, aber unheimlich assoziationsstark, werden da Veränderungen in Paarkonstellationen, deren Brüche sowie der Umgang mit Alter und Tod, mit dem Sich-Selbst-Verlieren und unaufhaltsamen Verfließen von Zeit tänzerisch sehr herausfordernd verhandelt – in nahtlos aneinander gehäkelten dramatischen Miniaturen. Das Emotionale daran, eine gigantische Palette an innerer Gefühlskraft springt das Publikum regelrecht an.

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Aufgeladene Beziehungen

Jede der zahlreichen solistischen beziehungsweise Duett- oder Kleingruppen-Einheiten strotzt vor technischen Kniffligkeiten. Unglaublich gegenwärtig mutet selbst nach 18 bzw. 13 Jahren das Bewegungsvokabular an. Und die durchweg individuell starken Tänzerinnen und Tänzer kommen einem völlig verwandelt und in ihren ausdrucksmächtigen Charakteren grandios umgekrempelt vor – allen voran Laurretta Summerscales als bucklig-verbogene alte Lady in „Schmetterling“ und die 20-jährige Französin Eline Larrory in „Silent Screen“. Letztere schloss im vergangenen Sommer ihre Ausbildung ab und wurde gleich in ihrer ersten Arbeitswoche beim Bayerischen Staatsballett für die weibliche Hauptrolle des Auftaktstücks gecastet.

Von der enorm beredten Emotionalität, die hier mimisch und gestisch ebenso impulsiv wie theatralisch aufgeladen nicht bloß von diesen beiden Tänzerinnen ausgespielt wird, fühlt man sich schier überrumpelt. Dass man nicht in jedem Moment genau verstehen kann, was passiert, macht eigentlich nichts. Zudem sind einem die Protagonisten, die körperlich elektrisieren und zeitweise durch das Aufreißen ihrer Münder, wildes Zungenblecken oder urplötzliche Lautäußerungen fesseln, wegen des zur vorgezogenen Bühnenfläche überbauten Orchestergrabens viel näher als sonst im Nationaltheater üblich.

Gerade am Schluss – nach von Tollheiten gespickten zweimal 45 Minuten tänzerischer Rasanz wie Intensität, die verfliegen, als sei höchstens die Hälfte der Zeit vergangen – führen einem die Protagonisten berührend-empfindsam und sporadisch fast launig-humorvoll vor, dass es auch wunderschön sein kann, das Leben gehen zu lassen, während es andere gleichzeitig neu für sich (er)finden (müssen). So ist dies nur ganz selten in der choreografischen Kunst zu erleben.

Nachhaltige Begeisterung

Lange tobt der Applaus danach. Das Publikum scheint sich gar nicht mehr von diesem fantastischen Ensemble trennen zu wollen, das hier auf überwältigende Art und Weise das Stück trägt, was dank seiner bewegungssprachlichen Originalität und zeitlosen Brisanz längst zu den Meisterwerken der tanzgeschichtlichen Moderne gezählt werden darf. „Nochmal!“, ruft ein euphorisierter Zuschauer . Auf der Bühne strahlen Sol Léon und Paul Lightfoot nebst allen 20 in die Produktion Involvierten um die Wette.

Drei davon (Severin Brunhuber, Vladislav Kozlov und António Casalinho) waren sogar in beiden Stücken besetzt, die in München zum ersten Mal überhaupt in Kombination und von einer anderen Kompanie als dem Nederlands Dans Theater getanzt wurden. Ein voller Erfolg zum Auftakt der Münchner Ballettfestwoche 2023, den – seinerzeit durchaus visionär für sein Ensemble – noch Münchens voriger Ballettchef Igor Zelensky eingefädelt hatte. Seinem Nachfolger Laurent Hilaire, der an diesem Abend neben Staatsopernintendant Serge Dorny selbst begeistert applaudiert, hat er damit einen Glücksgriff zur Repertoire-Erweiterung beschert.

Mehr als 35 Jahre lang haben Léon und Lightfoot das Nederlands Dans Theater maßgeblich mitgeprägt. Ihre Karrieren als Tänzer hatten beide unter Jiří Kylián in dessen Den Haager Juniorkompanie NDT II begonnen. Schnell rückten sie ins Hauptensemble NDT I auf. 1989 begründeten der Brite und die Spanierin ihre enge Arbeitsgemeinschaft Léon/Lightfoot: eine gleichberechtigte, kreative Partnerschaft. Gemeinsam kreierten sie mehr als 60 Stücke für die berühmteste zeitgenössische Kompanie der Niederlande, deren Leitung Lightfoot 2011 übernahm – mit Léon als künstlerischer Beraterin. Freischaffend arbeiten sie nun seit 2020. Ihr zweiteiliger Ballettabend „Schmetterling“ stellt die erste Zusammenarbeit der beiden Künstler mit dem Bayerischen Staatsballett dar.

Das Ergebnis: absolut sehenswert. Zwei spannungsgeladene, sehr persönliche Ballette, die einem Amalgam aus den menschlichen Gegensätzen des Choreografen-Tandems gleichen. Letztlich famos zu einer stilistischen und abstrakt-narrativen Einheit geformt – inklusive eines eigens hinzukreierten kurzen Zwischenspiels während der Pause, um beide Stücke miteinander zu verbinden.

Leben und Liebe

Inspirationsquelle für „Silent Screen“ war die dem Tanz anverwandte nonverbale Verständigung in Stummfilmen und Friedrich Wilhelm Murnaus 1927 in Amerika gedrehtes Liebesdrama „Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen“. Auf der Bühne kommen Aufnahmen vom Meer, von einem Wald und einem Innenraum zum Einsatz. Die damals sechsjährige Tochter des Choreografen-Duos rennt auf das Hauptpaar zu. Tänzer und Film verschmelzen. Als sich die Pupille des Mädchens filmisch in einen zeitstrudelartigen Tunnel verwandelt, rücken langsam noch andere Figuren ins Blickfeld.

Zu Musik von Philip Glass (vom Band: „Glassworks“, „The Hours“) sieht man ein Paar (Eline Larrory, Severin Brunhuber), das verschiedene Phasen einer Beziehung durchlebt. Es wird traumartig und im Mittelteil von einem weiteren Mann (Andrea Marino), einem großartigen Pas de deux in Weiß (Bianca Teixeira, Matteo Dilaghi) und einem schmissigen Männertrio (Osiel Guneo, Giovanni Tombacco, António Casalinho) flankiert. Das Mädchen im roten Mäntelchen (Margarita Fernandes – als sei sie aus dem Film) stößt zum Trio hinzu.

Die große Klammer des Abends ist – über verschiedene Bilder und Konzepte des Weiblichen hinaus – das Leben in seiner Vergänglichkeit, die Transformation, der Tod, aber auch neue Lebenskraft. Musikalisch angetrieben durch Kompositionen von Max Richter und Love Songs der Indie-Rock-Band Magnetic Fields bringen Léon und Lightfoot im titelgebenden zweiten Teil „Schmetterling“ ein Panoptikum kuriosester Typen zum Tanzen. Jeder für sich ein Bühnenerlebnis der besonderen Art.

Ein Zeichen dafür, dass das Werk kurz nach dem Tod von Pina Bausch entstand, könnten die mitreißend fröhlich über die Bühne swingenden Ensemble-Ketten sein. Im Kern aber geht es um die Beziehung einer sterbenden Mutter zu ihrem Sohn – mimisch zwischen Lachen und Weinen, Bewusstsein und Verwirrung: die atemberaubende Laurretta Summerscales. Der Abschied – inszeniert in einem kulissenartigen Erfahrungsraum – gerät zu einem Rausch, in dem Bausteine der menschlichen Existenz und Wesensfacetten von einer Crew ausgesuchter Tänzerinnen und Tänzer lange herumgewirbelt werden. Hinter Robin Strona als einem der männlichen Hauptparts bleibt die Bühne am Ende weit und leer zurück. Fast möchte man ins „Nochmal!“ einstimmen