Szene aus "Eigenarten"

Von Außenseitern und Anführern

Natalie Wagner und Compagnie: Eigenarten

Theater:Landesbühnen Sachsen, Premiere:18.03.2023 (UA)Komponist(in):Christian Retzke

Der rote Vorhang öffnet sich und die gesamte Tanzkompagnie der Landesbühnen Sachsen bildet eine Traube auf der Bühne in Radebeul. Ihre Kostüme sind bunt – ein grünes Kleid, ein durchsichtiger, gräulicher Jumpsuit, unter dem ein roter Bustier durchblitzt, ein orangener Rock. Es wirkt fast so, als hätten sich die Tänzerinnen und Tänzer ihre Outfits selbst zusammengestellt. Sie laufen für einige Momente auf der Stelle, bevor sie immer noch eine Traube bildend auf der Bühne Kreise drehen. Begleitet werden sie dabei den druckvollen, mechanisch wirkenden Beats von Christian Retzke. 15 Stücke hat der Leipziger Elektro-Künstler für den Abend geschaffen, die mal flächig und rau sind und dann wieder in eine angesagte Bar passen könnten. Seine Musik ist repetitiv und unaufgeregt, gibt den Szenen eine Grundlage, statt selbst Höhepunkte zu setzen.

Nach und nach löst sich die Formation auf und sie laufen hintereinander her. Immer mehr Ensemble-Mitglieder scheren aus, suchen sich einen Platz auf der Bühne und beginnen eigene Bewegungen auszuführen: Der Arm ist im rechten Winkel vor das Gesicht erhoben und bewegt sich in Wellen. Der Körper ist nach vorne gebeugt, die Arme hinter dem Rücken gedrückt. Leichtes Zucken lässt sie wie knochige Flügel erscheinen. Es sind ungewöhnliche Bewegungen, die im Laufe des Abends immer wieder aufleuchten werden.

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Die Frage nach Diversität war der Anlass dieses Tanzstücks der neuen Ballettchefin in Radebeul, Natalie Wagner. Sie hat das Gespräch mit verschiedenen Menschen in Sachsen gesucht und sie gefragt, wie sie mit Schwächen oder Behinderungen umgehen, sie vielleicht sogar in Stärken verwandeln konnten. Aus der Auseinandersetzung mit diesen Gesprächen sind in der Zusammenarbeit mit der gesamten Kompagnie mehrere kleine Tanzszenen entstanden, die nahtlos ineinander übergehen: Ausstatterin Kerstin Laube hat mehrere Metallbänke mit spiegelnden Oberflächen bauen lassen, die das Ensemble immer neu zusammenstellt. Einmal bauen sie eine kurze Rutsche, die sie dann einzeln in möglichst unterschiedlichen Posen hinabrutschen. Sie werden zu einem Podest, riesigen Spiegeln und magischen Boxen, aus denen immer wieder andere Menschen hervortreten.

Was uns Stärke verleiht

Dem Konzept, das dem Abend zugrunde liegt, sollte man eher nicht zu viel Gewicht beimessen. Die Figuren auf der Bühne kämpfen nur selten mit ihren Eigenarten oder Einschränkungen. Sicherlich, manchmal bewegen sie sich ungewöhnlich oder stehen abseits der Szene: Erschrocken betrachtet sich Marianne Reynaudi bei einem Solo im Spiegel und fährt mit ihren Händen verwirrt über ihren Körper. Dann steht eine Figur auf einem riesigen Podest und wird von oben angestrahlt – offensichtlich ein Star auf der Bühne. Fast das ganze Ensemble sammelt sich davor, bildet einen amorphe, jubelnde Masse. Nur einer steht außerhalb und wird im Laufe der Szene wie eingesaugt.

Die Außenstehenden bleiben meist abseits oder werden selbst zum Star oder zur Inspiration. Nur selten spielen echte Sorgen eine Rolle: Ema Jankovič tritt vor eine Leinwand, auf der Lichtstreifen von oben nach unten laufen und bewegt sich selbstsicher über die Bühne. Danach tritt Alena Krivileva auf und ihre Selbstzweifel sind deutlich zu sehen. Beide kommen immer näher zueinander, liegen seitlich auf der Bühne und lehnen die Köpfe aneinander. Stärke kann auch von anderen kommen.

Meistens jedoch kommt die Stärke von innen, erzählen die Szenen davon, wie man sich in die Gruppe einfügt oder sich selbst verwirklicht. Es ist kein neues Thema, aber es wird mit wunderbaren Ideen und starker Energie erzählt. Vermutlich rührt die daher, dass sich das Ensemble wirklich selbst ausdrücken und mitchoreografieren konnte: Ein weißer Rüschenball rollt auf die Bühne. Langsam schiebt sich ein Bein mit einer orangenen Socke hervor und bildet so etwas wie einen Schwanenkopf. Eigenwillig entwickelt Igor Prandi so eine Reminiszenz an „Schwanensee“, das auch immer wieder mit dem Bewegungsrepertoire des klassischen Balletts spielt.

Energie und Gemeinschaft

Die größte Stärke ist das Ensemble selbst, das sich als eine Gemeinschaft bewegt. Dabei scheinen sich die einzelnen Teile nicht unterordnen zu müssen – immerhin scheren sie immer wieder zu kleineren Szenen aus – sondern folgen einer Idee und dem gleichen Takt der knisternden elektronischen Musik: Ganz in Grau gekleidet, nur noch kleine Elemente erinnern an die bunten Kostümen, gehen sie um die aufgetürmten Tische. Scheinbar willkürlich gibt jemand den Impuls und alle beugen ihren Körper nach vorn oder nach hinten – wie in einer Bewegung. In einer langen Szene wuseln die Tänzerinnen und Tänzer über die Bühne und bilden Standbilder. Meist bleibt eines der Mitglieder liegen, so dass die Situation umgedeutet wird. Das gelingt mit beeindruckender Präzision.

Gegen Ende irrt das Ensemble über die Bühne. Sie suchen Halt in einer immer neuen Bewegung (die wir schon vom Anfang kennen) und rotten sich wieder zu einer Traube zusammen. Bis eine einzelne Personen, die außen vor geblieben ist, sie mit einem stummen Schrei zu Fall bringt. Es ist der ständige Aushandlungsprozess zwischen Menge und Individuum.

Vielleicht hätten es zwei oder drei Szenen weniger sein können: Der Abend zieht sich an manchen Stellen, weil es zu viele Eindrücke sind, um sie verarbeiten zu können. Dass es schwer gefallen ist, zu kürzen, ist allerdings nachvollziehbar: Weil es so viele schöne Einfälle sind und das gesamte Ensemble so viel Freude an ihnen hat.