Apropos: Stephen Schwartz und Roger O. Hirson wandten sich Pippin zu, inspiriert von dem historisch belegten Sohn Karls des Großen. Nach dem Studium kehrt der Königssohn zurück an den Hof und muss, nein, will dort seinen Platz finden. Eine große Persönlichkeit, so glaubt er, müsse sich auch mit großen Dingen befassen – und also lässt er sich von der Prinzipalin Krieg und Orgie zeigen, kurz auf den Königsthron führen, probiert Kunst und religiöse Studien und entdeckt schließlich den Wert des Familienlebens. Mit Frau und Stiefsohn an der Seite verweigert sich Pippin dem letzten großen Akt: der Selbstverbrennung aus Verachtung für das Leben. Die Verantwortung für die Eroberung des Himmels wird – im sogenannten „Theo“-Finale – der nächsten Generation übertragen.
Gut gealtert, so findet man in Dresden, sei dieses „Pippin“-Musical. Und tatsächlich: Einen Platz in der Welt zu finden und dabei mit keiner gefundenen Rolle ganz zufrieden zu sein, weil es doch gar so viele andere Möglichkeiten gibt – das Problem kennen heute wohl noch viel mehr (junge) Menschen als zur Entstehungszeit des Musicals vor 50 Jahren. Dass dieser Weg keine Heldenreise ist, nicht mal für geborene Helden, das führt das Stück vor Augen. Entsprechend gern wird es von jugendlichen Amateurtruppen aufgeführt, vergleichsweise selten jedoch an großen Häusern.
In Dresden nutzt man die Gunst der vergleichsweise guten finanziellen Grundausstattung. Die 2013 fürs Revival auf eine 12-Musiker-Besetzung zusammengestauchte Partitur wird nicht nur wieder auf ihre 1970er-Ursprünge zurückgeführt, sondern von Koen Schoots für ein 40-Mann-Orchester erweitert. Dadurch verliert sie an Rockigkeit (Gitarre oder Bass sind selten dominant), gewinnt zugleich aber an Streicher-Parts oder vollen Bläsersätzen, die sich bis zum Big-Band-Sound aufschwingen. Dieser Eingriff scheint gelungen: Das Orchester der Staatsoperette unter sensibler Leitung von Peter Christian Feigel gibt Doppelwumms, wann immer es angemessen ist, kann sich aber auch zurücknehmen. So sind die Darstellerinnen und Darsteller zu jeder Zeit klar verständlich (allzu oft leider keine Selbstverständlichkeit).
Wunderbares Ensemble, aber schwaches Konzept
Mit Gero Wendorff hat das Ensemble einen Tenor in seinen Reihen, der die gesanglichen Hürden der Titelfigur mühelos nimmt. Seinen Traum vom Himmel „A Corner of the Sky“ – klassischer Musical-I-Want-Song und früheren Generationen von Musical-Besuchern eine Hymne – vermittelt er überzeugend. Auf seiner Welterkundung wechselt er spielerisch von Brust- zur Kopfstimme. Was ihm (noch) fehlt, erlebt man im großen Duett mit der Prinzipalin zu Beginn des zweiten Akts: Mit unheimlicher Präzision, mal hämmernd, mal streichelnd, setzt Gast Kerry Jean jeden Tanzschritt auf den Bühnenboden, ohne an stimmlicher Kraft zu verlieren, da kann Wendorff mit seinen eher fließenden Bewegungen nicht ganz mithalten. Ihre anfängliche Nervosität hat Jean zu dieser Zeit längst abgelegt. Sie treibt das Spiel unerbittlich voran, mal streng, mal flirtend, immer im Kontakt mit dem Publikum – die vierte Wand verschwindet (nur zum Mitsingen von „Zeit zu leben“ kann sie das Premierenpublikum dann doch nicht animieren). Selbst den Kontrollverlust über ihre Spieler, die Revolution des Lebens über das Spiel, nimmt sie mit Würde – ein echter Zugewinn auf der Staatsoperettenbühne.
Auch die Nebenrollen sind formidabel ausgefüllt mit den Ensemblemitgliedern Marcus Günzel (Karl der Große) und Silke Richter (Fastrada), dem häufigen Gast Bettina Weichert (Bertha), den Staatsoperetten-Neulingen Sybille Lambrich (Katharina) und Sascha Luder (Ludwig, Pippins Bruder). Sie alle bekommen ihre – zumeist wenigen – Augenblicke, sich in den Fokus zu spielen, zu singen, zu tanzen – und nutzen dies, um das Publikum für sich einzunehmen.
Das gleiche möchte man über die Choreografien behaupten, die Regisseur Simon Eichenberger gleich mit übernommen hat. Er wählt eher klassische als moderne tänzerische Elemente, das Duell Jazz-Hands gegen Back Spins geht sehr eindeutig aus. Nur selten lässt Eichenberger artistische, gar Break-Dance-Elemente einfließen, erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten seiner Chorus Line aber immerhin durch Marionetten, Hand- und Stabpuppen und sorgt damit für Erheiterung im Publikum.
Die war schon der ersten Broadway-Inszenierung von Bob Fosse wichtig, bis hin zu einem beißenden Zynismus, der auch mal schlucken lässt. In Dresden wirkt die Regie-Arbeit von Eichenberger zurückgenommener – und man möchte meinen zu sehr: In einer großen Gesellschaftskritik, wie sie Fosse im „Pippin“ angelegt hat, mag es funktionieren, wenn Choreografie und Musik die große, blutige Schlacht im ersten Akt in maßloser Übertreibung in ein Mords-Vergnügen verwandeln. Konzentriert man sich – wie Eichenberger – auf die Coming-of-Age-Geschichte des Pippin, wirkt dies angesichts der fehlenden Einordnung deplatziert.