Foto: Michael Borth und Inga Schäfer in "Marnie" am Theater Freiburg © Britt Schilling
Text:Georg Rudiger, am 15. Januar 2023
Wer ist Marnie: Eine skrupellose Serienräuberin, die das Vertrauen ihrer Vorgesetzten missbraucht, um sich persönlich zu bereichern? Eine unterdrückte Tochter, deren Handeln Folge eines kindlichen Traumas ist? Oder einfach eine selbstbewusste und unabhängige Aufsteigerin, die ihren eigenen Weg in der Männerwelt geht? Nico Muhlys zweiaktige Oper „Marnie“ nach dem gleichnamigen Roman von Winston Graham (Libretto: Nicholas Wright) legt sich nicht eindeutig fest. Der US-amerikanische Erfolgskomponist (geboren 1981), der in Deutschland bislang kaum bekannt ist, hat der Hauptfigur sogar vier sogenannte „Shadow Marnies“ zur Seite gestellt, die die vielschichtige Persönlichkeit dieser Frau ins Bild setzen, aber auch hörbar machen. Nun hat das Freiburger Theater die 2018 komponierte Oper als deutsche Erstaufführung (musikalische Leitung: André de Ridder) in einer gediegenen, atmosphärisch dichten, interpretatorisch offenen Inszenierung von Intendant Peter Carp auf die Bühne gebracht.
Alfred Hitchcock ging in seinem gleichnamigen Film aus dem Jahr 1964 geradliniger vor und packte so auch mehr Spannung in die Geschichte. Marnies Flashbacks, die durch die Farbe Rot und durch Gewitter ausgelöst werden, sind dort echte Panikattacken. Erst am Ende des Films löst sich die Spannung auf, wenn sie von ihrer Mutter den Grund für ihr Trauma erfährt: Als Kind hatte Marnie mit einem Schürhaken einen Matrosen getötet, vor dem ihre Mutter, die zuvor mit ihm Sex hatte, sie schützen wollte. Hitchcocks Version der Geschichte, die sich in vielen Details von Muhlys Oper unterscheidet, ist verkürzter, stringenter und radikaler – die dramatische, spannungsgeladene Filmmusik von Bernard Herrmann unterstützte diese Forcierung.
In Extrembereichen bewegt sich Nico Muhlys Musik selten. Der Komponist hat schon mit Popgrößen wie Björk und Usher zusammengearbeitet, ist aber auch als Assistent von Philip Glass tief in die Minimal Music eingetaucht. Eingängig, süffig, farbenreich klingt diese Oper – mit einem fortwährenden musikalischen Erzählstrom, mit großen Chorsätzen und kantablen Solomelodien, die sich aus der mal repetitiven, mal flächigen Begleitung schälen. Freiburgs neuer Generalmusikdirektor André de Ridder hat schon am Theater Basel in Philipp Glass‘ „Einstein on the Beach“ und an der Staatsoper Stuttgart in John Adams‘ „Nixon in China“ seine Kompetenz in Sachen Minimal Music bewiesen. Mit ruhiger Hand führt er durch den Abend, formt das Philharmonische Orchester Freiburg zu einem runden Klangkörper, tariert immer neu die Balance zwischen Bühne und Orchestergraben aus und lässt mit großer Selbstverständlichkeit einen musikalischen Flow entstehen. Nur in den hohen Holzbläsern sorgen gelegentliche Intonationstrübungen für leichtes Unbehagen. Auch die rhythmische Präzision hat noch etwas Luft nach oben.
Es fehlt der Thrill
Wie in der Romanvorlage vorgesehen, lässt Regisseur Peter Carp die Geschichte im England des Jahres 1959 spielen. Das mit Schreibmaschinen ausgestattete Großraumbüro ist mit edlen Tapeten verkleidet (Bühne: Kaspar Zwimpfer). Man trägt schmal geschnittene Kostüme und dreiteilige Business-Anzüge (Kostüme: Su Bühler). Zu den weich gezeichneten musikalischen Szenenübergängen setzt Carp sensibel Räume in Bewegung (Licht: Diego Leetz). Immer wieder nutzt er die Tiefe der Bühne, um die Einsamkeit der Figuren zu verdeutlichen. Inga Schäfer steht als Marnie fast ununterbrochen auf der Bühne.
Das Ensemblemitglied ist mal die kokette, selbstbewusste Dame, mal eine unterwürfige, verunsicherte Tochter wie bei den Begegnungen mit der dominanten, abweisenden Mutter (beklemmend: Anja Jung) und ihrer hörigen Nachbarin Lucy (Lila Crisp) mit dem glockenhell singenden Jungen (Manuel Habermann). Ihr hell timbrierter, beweglicher Mezzosopran kann Marnie zum Leuchten bringen, zeigt aber auch die vielen Zwischentöne dieser Frau bis hin zu den Angstschreien, wenn Marnie von ihrem sonst zurückhaltenden Ehemann Mark Rutland vergewaltigt wird. Michael Borth bringt mit seinem kantablen, leuchtenden Bariton diese in Hitchcocks Film von Sean Connery bedrohlich gezeichnete Figur näher. Christopher Ainslies schlackenloser Countertenor macht aus Marks Bruder Terry einen schmierigen Verführer. Katherine Manley als Mrs. Rutland ist eine schön dominante Mutter. Roberto Gionfriddo stattet den betrogenen Geschäftsmann Mr. Strutt mit der notwendigen Tenorpower aus.
Nico Muhlys Oper hat ihre Stärken in den geheimnisvollen Übergängen, im Farbenreichtum, in der raffinierten Mischung von hohen und tiefen Frequenzen und den komplexen Chorszenen (großartig: Opernchor und Extrachor/Norbert Kleinschmidt) wie bei der Jagd, in der Marnie den fliehenden Fuchs, mit dem sie sich identifiziert, schützen möchte und dabei ihr geliebtes Pferd verliert. Was der Musik fehlt, sind Abgründe und Zuspitzungen. Diesem Thriller fehlt der Thrill. Zu viele Wohlfühlharmonien, zu wenig Spannungen. Das macht diesen respektablen, umjubelten Musiktheaterabend zwar äußerst zugänglich. Einen echten Sog entwickelt er aber nicht.
Und wer ist nun Marnie? Am Ende wird die Betrügerin verhaftet. Sie aber lächelt dazu und zwinkert ins Publikum. Alles nur ein Spiel? Gefangen, und doch frei? Marnie bleibt ein Rätsel.