In der Fremde daheim

Karl Valentin/Michel Decar: Valentiniade. Sportliches Singspiel mit allen Mitteln

Theater:Residenztheater, Premiere:16.12.2022 (UA)Regie:Claudia Bauer

Der Anfang ist das Ende. Das Ende des Karl Valentin. Auf einer Projektion sieht man die Gänge eines Supermarktes, man folgt der Kamera zwischen Regalen und Preisschildern hindurch. Es ist der Penny-Markt in der Münchner Preysingstr. 42. Früher einmal war hier das Kabarett „Bunter Würfel“, der Ort, an dem der Komiker im Februar 1948 seinen letzten Auftritt hatte. Anschließend wurde er versehentlich in der Garderobe eingeschlossen, musste die Nacht in den eiskalten Räumen verbringen und starb am Rosenmontag an einer Lungenentzündung. Er war unterernährt und geschwächt, an seine alten Erfolge hatte er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht anknüpfen können. Dass eben hier nun ein Supermarkt steht, Regale voller Kalorien, ist freilich ein Zufall. Aber einer, der dem Valentinschen Verständnis von Komik doch irgendwie zur Ehre gereicht, wohnt ihr doch immer etwas Tragisches inne.

Die Regisseurin Claudia Bauer hat sich nach ihrem Ernst-Jandl-Abend am Wiener Volkstheater („humanistää!“) nun Karl Valentin vorgenommen. „Valentiniade. Sportliches Singspiel mit allen Mitteln“ heißt der Abend, der jetzt am Münchner Residenztheater Premiere hatte. Michel Decar hat berühmte Szenen von Karl Valentin und Liesl Karlstadt wie die „Orchesterprobe“ mit eigenen Textbeiträgen kombiniert. Herausgekommen ist ein Abend, der nicht ohne Schwächen ist, aber vor allem sehr viele Stärken hat.

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Valentin ohne Valentin?

Am linken Bühnenrand steht eine runde Konstruktion aus Stahl. Unten sitzen die Musiker Leo Gmelch, Michael Gumpinger und David Paetsch, die für den nötigen Swing sorgen. Oben tänzelt gleich zu Beginn der Tod, der schon lauert. Er wird immer im Bewusstsein sein an diesem Abend, der den Schmerz hinter dem Spaß erkundet, die Abgründe unter dem Komischen. Über die Bühne senkt sich eine luftig-tuftige Vorhang-Röhre, die sich immer mal wieder heben wird, um den Blick freizugeben auf die leere Drehbühne, die Manege. Zunächst aber sieht man eine Projektion: Lukas Rüppel mit Valentin-Frisur, der Gedanken zum eigenen Abgang anstellt. „Ich existiere ja nur, um den Untergang zu vermeiden“, so der erste Satz an diesem Abend. Es folgen ausgiebige Erklärungen, wann es sich zu sterben lohne (am Ende eines Monats, da die Miete im Voraus bezahlt wird). Und wann auf keinen Fall, nämlich „grad“, also jetzt, da doch noch so viel bezahlter Wohnraum vor einem liegt. Es ist ein furioser Einstieg, der einen sofort hineinzieht ins Valentinsche Universum, in die Welt dieses „Komikers“, für den die Komik existentiell war zum Überleben. Weil die Welt ja eigentlich gar nicht so komisch ist, wenn man mal ehrlich ist.

Die Frage, die wie bei Projekten dieser Art immer über allem schwebt, lautet: Valentin ohne Valentin, geht das? Kommt einer heran an die große Kunst dieses Interpreten seiner eigenen Texte? Doch Claudia Bauer will gar nicht den einen, neuen Valentin schaffen, sie überführt seine Texte ins Kollektiv. In ihrem Ensemble ist jede und jeder mal Valentin, mal Teil des Chors, mal Karlstadt. Pia Händler, Isabell Antonia Höckel, Katja Jung, Florian von Manteuffel, Nicola Mastroberardino, Max Rothbart, Lukas Rüppel und Myriam Schröder tragen alle Valentinsche Anzüge und Frisuren, diese Zitate genügen. Sie ahmen nicht nach, sondern verwandeln die Texte in etwas Neues, in Choreographien „mit allen Mitteln“, wie der Titel verspricht. Die Text-Tanz-Nummer beispielsweise, die Bauer und ihr Ensemble zum „Klagelied einer Wirtshaussemmel“ erschaffen, ist ebenso grandios wie das Mini-Singspiel zum „Radlerpech“, wo eigentlich nichts weiter geschieht, als dass ein Radler einer Frau in den Rock radelt und daraus ein Streit entsteht. In diesen Momenten stimmt einfach alles, Rhythmus, Absurdität, Komik werden eins.

Zwischen Weltuntergangsstimmung und Lebensfreude

Freilich ruckelt es hie und da auch ein wenig an diesem Premierenabend, nicht jede Szene ist gleich stark. Manch ein eingeschobener Text kommt nicht an die Nonchalance des Originals heran, manchmal sackt die Spannung ab. Kann gut sein, dass sich da noch einiges einspielt im Lauf der Zeit. Doch schon jetzt hat dieser Abend zweifellos Momente, in denen das Experiment „Valentin ohne Valentin“ komplett aufgeht und die textliche Meisterschaft dieses Künstlers grandios zur Geltung kommt. Die großartigste Szene ist zweifellos die Schulstunde über „Die Fremden“, diese zeitlos kluge Analyse des Fremdseins, dieses berühmte: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“. Valentin spinnt es fort, hinterfragt jede Festlegung sofort wieder, macht die Brüchigkeit jeder Definition deutlich: „Wenn ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann immer ein Fremder?“ Ist einer so lange ein Fremder, bis ihm nichts mehr fremd ist? Sind also auch Einheimische manchmal Fremde in ihrer eigenen Heimat? Diese „Valentiniade“ ist ein Abend zwischen Weltuntergangsstimmung und Lebensfreude. Eine Hommage an diesen dürren Mann, der in München daheim war. Und doch immer ein Fremder geblieben ist auf dieser Welt. Weil ihm bewusst war, dass es immer etwas geben wird, das ihm fremd ist.