Foto: Insa Lebens, Lucas Riedle und Justin Hibbeler in "Vom Wert des Leberkäsweckles" am Landestheater Tübingen © Martin Sigmund
Text:Manfred Jahnke, am 4. Dezember 2022
„Demenz“ als die Gesellschaft bedrängendes Thema ist auch auf der Bühne zu einem gewichtigen Sujet geworden. Der Verlust der Erinnerungen, zunächst schmerzhaft erlitten, verschwimmt in einer Gegenwärtigkeit, die keine Vergangenheit und Zukunft mehr kennt. Was aber ist, wenn einer – noch im Besitz all seiner Geisteskräfte – öffentlich verkündet, dass er im Falle einer Demenz sterben möchte – wenn es sein muss, mit Hilfe seiner Frau? Diese Frau aber, als sie sieht, wie ihr Mann in ganz neue Wirklichkeiten eintaucht – wie der liebevollen Betrachtung von jungen Welpen oder dem Essen von Leberkäsweckles – entschließt sich, die versprochene Mithilfe zu verweigern. Ein heftiges moralisches Problem wird aufgegriffen und die Akteure haben illustre Namen: Walter Jens (1923 – 2013), dement seit 2003, einst als Tübinger Professor für Rhetorik eine moralische Instanz in der alten Bundesrepublik, und seine Frau Inge Jens (1927 – 2021). In der Tradition von Lessing und Fontane verstand er sich als Radikalaufklärer und fand für seine Stimme viele mediale Wege.
Für die LTT Tübingen hat Jörn Klare, der 2012 in „Als meine Mutter ihre Küche nicht mehr fand. Vom Wert des Lebens mit Demenz“ die Erfahrungen mit der Demenz seiner Mutter veröffentlichte, die Beziehung von Inge und Walter Jens in „Vom Wert des Leberkäsweckles“ zum Thema gemacht. Mit Originaltonelementen rekonstruiert er die Geschichte von Walter J. Dabei bleibt er eng am historischen Geschehen haften. Dass er dabei die Tatsache, dass Walter Jens 1942 als Mitglied der NSDAP aufgenommen wurde und dessen Unfähigkeit, sich dieser Mitgliedschaft zu erinnern, von Klare nun als (Vor-?)Form der Demenz begriffen wird, erscheint problematisch. Fasziniert vom Fall eines berühmten Professors in das Stadium eines freundlichen Altherren, der lächelnd im Supermarkt den Einkaufswagen vor sich hinschiebt, bleibt der Autor sehr nahe an der Biografie. Einerseits.
Andererseits ist Klare klug genug zu sehen, dass er über das Subjektive hinaus die objektive Seite des Problems herausarbeiten muss. Schon anfangs, nachdem das Ensemble die Rezeptur eines Leberkäs vorgestellt hat, beginnt das direkte Anspiel des Publikums, indem dessen Erfahrungen zum Thema des Vergessens herausgefordert werden, zudem eingebunden in die Grundfrage: „Wie spielt man Vergessen?“. Erst dann wird auf den „Fall Walter Jens“ eingegangen und immer mehr die moralische Grundfrage dieses Stücks herausdifferenziert: Wie soll man beim „Langsamen Entschwinden“ – so der Titel der 2016 erschienenen Rechtfertigungsschrift von Inge Jens – mit dem Jahre zuvor formulierten Credo des Sterbenwollens bei Demenz umgehen? Lässt sich eine solche Haltung mit Menschenwürde vereinbaren? Denn auch der Mensch, der die Geschichte seines Lebens vergisst, bleibt ein Mensch! Weil diese ethische Frage letztlich individuell in der Situation entschieden werden muss, kann es keine generellen Handlungsanweisungen geben.
Abbild des chaotischen Gedächtnisses
In seiner Uraufführungsinszenierung hebt Sacha Flocken auf einen abstrakten Kunst-Denk-Raum ab, um die Vorgänge des Vergessens spielerisch leicht im mentalen Bereich zu verorten . Schon das Bühnenbild von Paula Mierzowsky, in der alles geheimnisvoll mit Leintüchern eingehüllt ist, zwei Säulen ragen aus dieser Landschaft hervor, verweist darauf, wer Walter Jens einmal war: Seine Antike-Interpretationen wirken bis heute nach. Von daher macht das Bühnenbild Sinn. Wenn dann die Leinwände abgezogen werden, dann sieht man überdimensional groß den Kopf eines Jünglings, dessen tote Augen auch aufleuchten können, oder einen Teil einer Bibliothek. Eine der stärksten Szenen der Inszenierung von Sascha Flocken zeigt denn auch, wie Walter J. inmitten der von den Regalen hinunter gerissenen Büchern hockt und er mit diesen nichts mehr anzufangen weiß.
Ansonsten gibt es einen Sessel, einen Fernseher, einen Aktenvernichter, der weißes Papier in Streifen schneidet, die wiederum Teil des Spieles werden, wie auch ein roter Faden, ein Ariadnefaden, Abbild des chaotischen Gedächtnis, der kreuz und quer über die Bühne gespannt wird. Auch die Kostüme von Paula Mierzowsky mit ihren Aquarellfarben verdeutlichen die Künstlichkeit des Spiels. Es beginnt damit, dass Lucas Riedle vor dem Bodenkreis, der den Handlungsraum von Jens andeutet, vier Mikrofone auf der Bühne aufstellt und dann als Entertainer zwischen Bühne und Zuschauerraum vermittelt. Die vier Schauspieler:innen treten als Kollektiv auf, dem Publikum dabei stets zugewandt.
Dennoch kristallisieren sich im Verlaufe des Spiels Rollenzuweisungen heraus: Insa Jebens wird zur Inge Jens und Justin Hibbeler überzeugend zu Walter Jens. Voller sympathisierender Empathie führen sie die Höhen und Tiefen der Beziehung vor, wobei der Autor sich allerdings dazu entschieden hat, die Tiefen des Zustands des Vergessens eher zu unterschlagen. Hannah Jaitner wird wunderbar komödiantisch wie Lucas Riedle eher zur Mittlerin zwischen „historischer“ Handlung und dem gegenwärtigen Publikum. Mit der Betonung des Komödiantischen erhält diese Inszenierung eine Leichtigkeit, die die „Schwere“ des Inhalts nicht entschwinden lässt, sondern mich als Zuschauer zur Empathie zwingt. Dabei entwickelt Sascha Flocken zur leitmotivischen Musik von Jan Paul Werge, der in Anspielung auf die Herkunft von Jens ein Hamburger Lied verwendet, eine vor Einfällen überbordende Inszenierung von hohem ästhetischen Reiz.