Über Wetter- und Klimaerfahrungen
„1725“ wird eingeblendet, das Jahr, in dem Vivaldi seine Violinkonzerte „Le quattro stagioni“ veröffentlicht hat, die nun als musikalisches Lamento inszeniert werden. Ein eingespieltes Kammerensemble grundiert die filigranen Aufschwünge der Soloviolinistinnen Agnes Izdebska-Goraj und Maja Syrnicka. So wie Vivaldi den vier Werken jeweils ein Sonett voranstellt, um lesbar zu machen, was hörbar sein soll, erklärt nun die Wissenschaftlerin, dass die jubilierend knospende Frühlingsmusik, ja, das ganze farbenfrohe Abbild der Jahreszeiten der Ausdruck von Wetter- und Klimaerfahrungen im 18. Jahrhundert ist, dem Ausgang einer kleinen Eiszeit. Damals hätte die CO2-Konzentration in der Atmosphäre noch bei 280 ppm gelegen. Die Entwicklung bis heute auf über 400 ppm verdeutlichen Grafiken, die vom Bühnenboden peu à peu dem Bühnenhimmel entgegenkurven. Schon wird „1840“ eingeblendet, rauchende Schlote der Industrialisierung, Kohlehalden, Dampfloks flimmern vorüber (Video: Johannes Wagner). Das unaufhaltsame Fließen der vom Werden und Vergehen erzählenden Klangbeschwörungen Vivaldis verliert dabei seine klare Formensprache. Die Interpretation wirkt beunruhigend verzerrt und wird von Klangstürmen wie Extremwettereignissen bedrohlich durchweht (Musikalische Leitung: Daniel Dorsch). Bald darauf zeigen „Tagesschau“-Bilder brennende Bohrinseln, aber auch wie Flugzeug- sowie Autoverkehre und ein AKW in Tschernobyl explodieren, während sich Menschen zu Tode amüsieren im Konsumrausch. Es folgen Clips über die Folgen: extreme Dürre, extreme Stürme, extremes Artensterben, extrem schmelzende Eisberge etc. Dazu referiert die Wissenschaftlerin über die Grenzen des Wachstums, gegen das kapitalistische Wertesystem usw.
Unterricht für Klimawandel-Anfänger
Eine Unterrichtsstunde mit Agitprop-Appeal für Klimawandel-Anfänger ist diese theaterkünstlerisch eher schlichte Lecture Performance. Die Aufklärerin im Laborkittel schwingt sich aus stoischer Verbitterung zu großem Empörungsfuror auf. Denn: „Wir sind am Arsch.“ Da gelingt ein Epilog in Sachen Utopie dann auch nur halbherzig. Gar nicht gelingt, der Hauptdarstellerin eine lebendige, psychologisch differenziert ausgearbeitete Rolle anzubieten. Ihre Figur ist lediglich die Sprechpuppe wohlbekannter Aussagen inklusive des kassandrischen Schmerzes, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und daraus abgeleiteten Forderungen nicht gehört werden. Daraus leitet sie eine moralische Pflicht zum Handeln ab, will ab sofort ein Hindernis im Leben anderer sein, um zumindest so Aufmerksamkeit für ihre, unser aller Not zu bekommen. Da überzeugt die Aufführung. Sie möchte die gegenwärtige öffentliche Meinung drehen und nimmt eindeutig positiv Bezug auf die derzeit verlachten, verhöhnten, kriminalisierten Klimaaktivisten, die sich an Fahrbahnen kleben, um Autos und Flugzeuge am Starten zu hindern – oder Gemälde beschmieren, um zu zeigen, wie lächerlich die ihnen beigemessenen Millionenwerte sind, wenn wir gerade den Lebensraum der nächsten Generation ruinieren. Passend dazu klingen Vivaldis Kompositionen zunehmend so, als wehren sich auch die erhitzten Jahreszeiten, in einem ewigen Sommer aufzugehen.
Natürlich wäre der Abend genauer, würde er auch erwähnen, dass die Klimaaktivisten mit ihren Störaktionen gerade nicht größere Zustimmung für ihr Anliegen generieren, sondern selber Ziel der Diskussionen sind, nicht aber ihre Argumente. Aber die Motivation und Dringlichkeit wird intellektuell nachvollziehbar. Weil Kevin Barz und sein Team eben nicht die Frage stellen: Dürfen die das? Sondern verdeutlichen: Warum machen die das? Was auch einen Aufruf von Theaterkünstlern initiiert hat: „Wir sagen: Ziviler gewaltfreier Widerstand gegen die Klimanotlage ist legitim und notwendig und verdient unsere solidarische Unterstützung.“
Ein Statement des Theaterautors und -machers Lothear Kittstein, aktiver Unterstützer der Letzten Generation, finden Sie HIER