Der Auftritt der Titelfigur wird in Text und Musik lange vorbereitet. Der Mann, der da auftritt, in Melone, Fliege und schwarzem Anzug – vielleicht eine Reminiszenz an die Entstehungszeit, eine weitere Erinnerung an die zeitliche Distanz – sieht aber ganz „normal“ aus. Er hat ein Vintage-Radiomikrofon dabei. In dieses singt er irgendwann hinein und am Ende spielt ein Mitschnitt dieses Liedes eine Rolle. Das Mikro war nicht verkabelt. Den Strom müssen wir uns vorstellen wie die Versehrtheit der Figur, warum auch nicht. Aber woran stirbt dieser Mensch genau, als er sein Spiegelbild sieht? Mutmaßlich sieht er es hier gar nicht. Der Schockmoment ist eher die Erkenntnis, dass all die „Schönheit“, die er um sich herum wahrgenommen hat, nicht „echt“ ist, sondern das Ergebnis von offenbar teilweise auch schiefgegangenen Schönheitsoperationen. Was schon wieder ein schwieriger Begriff ist, denn er beschränkt ja den Schönheitsbegriff auf Äußerlichkeiten. Was der Regisseur geißelt, genau wie die deutliche Zunahme von Schönheits-OPs in den letzten Jahren. Und damit hat er natürlich unsere Sympathie. Aber, nochmal, warum stirbt einer daran, dass er das herausfindet, zumal er textlich eine vollkommen andere Todesursache behauptet, das unbearbeitete und textverständlich servierte Libretto überhaupt ständig von anderen Dingen spricht, als zu erleben sind? Zumal dem Publikum auf keiner Ebene Orientierung gegeben wird, wie diese (Be-)Deutungskomponenten zueinander in Beziehung gesetzt werden könnten.
Das alles könnte mutmaßlich sängerisch beglaubigt werden. Aber Burkhard Fritz, möglicherweise gesundheitlich angeschlagen, gestaltete die Partie des Zwergs an diesem Abend nicht, er kämpfte sich hindurch. Lange Notenwerte leierten häufig aus, Töne wurden von unten angeschliffen, in der Höhe wurde früh falsettiert, in der unteren Lage und in der Expansion drohte die Stimme mehrmals zu brechen. Jene „weiten melodischen Bögen“, die den Rezensenten in der im Programmheft abgedruckten Uraufführungskritik an dieser Partie begeistert hatten, waren am Premierenabend nicht zu hören. Dazu gingen die schönen, geschmackvoll eingesetzten Stimmen von Kathrin Zukowski (Infantin) und Christoph Seidl (Don Estoban) mangels Durchschlagskraft zu oft im Riesenraum des Staatenhaus Zwei verloren. So setzte Claudia Rohrbach als empathische Zofe Ghita mit klangschönem, lyrischem und doch expansionsfähigem Sopran den gesanglichen Standard, der auch ambitionierte Regiekonzepte dieses Stücks tragen könnte.
Großartiges Orchester
Star des Abends war eindeutig das Gürzenich-Orchester. Dieses ließ unter dem dynamisch, feinfühlig und stets um Kontakt zur Bühne besorgten Lawrence Renes Zemlinskys raffinierte Partitur erratisch leuchten. Da wurden etliche Richard-Strauss-Anspielungen, gerade auf „Salome“ und „Elektra“, genauso plastisch hörbar wie faszinierende Versuche, mit tonalen Mitteln in die Moderne aufzubrechen. Noch stärker gelang dann der Strawinsky. Orchestral war Petruschka an diesem Abend Achterbahnfahrt, rauschendes Fest und Klangexperiment in einem, ein Triumpf modern gedachter Musik!
Charmante Titelfigur, hemdsärmelige Spitzentanzeinlagen
Und diese Vorlage nahmen Richard Siegal und sein am Schauspiel Köln ansässiges Ballet of Difference enthusiastisch auf. Das Wichtigste zuerst: Siegal hat ein direktes Äquivalent für die in „Petruschka“ behauptete Hässlichkeit gesucht und gefunden. Sein Titelheld ist Außenseiter, weil er Individuum sein will – und weil er sich gleichzeitig seiner Existenzform bewusst ist. Dieser Petruschka weiß, dass er nicht „echt“, dass er Puppe (oder hier: Künstliche Intelligenz) ist. Er trägt als einziger seine Marionettenschnüre am Körper. Margarida Isabel de Abreu Neto fängt uns vom ersten Moment ein, mit ihrem Charme, ihrem freien und nunancierten körperlichen Ausdruck und nicht zuletzt ihren grünen Haaren. Überhaupt sind die Kostüme von Flora Miranda ein Vergnügen in ihrer Vielfalt und Farbigkeit, auch mit ihren augenzwinkernden Gender-Spielen. Siegal lässt sie uns am Anfang noch nicht zur Gänze sehen, bedeckt die Oberkörper mit heutig anmutenden schwarzen Jacken. Mit einem ersten Öffnen eines Reißverschlusses beginnt das formidable 13-köpfige Ensemble, ganz organisch in die Spielhandlung hineinzugleiten. Und Richard Siegal führt uns wunderbar entspannt hindurch, mit geradezu hemdsärmeligen Spitzentanzeinlagen. Er ist ja nicht gerade spezialisiert auf (neo-)klassische Handlungsballette, hat sie aber offenbar im kleinen Finger. Was man immer dann merkt, wenn er das wogende Geschehen scheinbar ansatzlos so verdichtet, dass Momente entstehen, bei denen einem der Atem stockt, am stärksten – naturgemäß – bei Petruschkas Tod.
Richard Siegals „Petruschka“ ist ein großes, ernsthaftes Theatervergnügen – und damit Paul-Georg Dittrichs wütend und sensibel auf der Suche nach Gegenwärtigkeit letztlich scheiternder „Zwerg“-Inszenierung deutlich überlegen.