Buch: „aufBruch – das Berliner Gefängnistheater“
Foto: „aufBruch“, das Berliner Gefängnistheater“ Alexander Verlag Berlin 2022 © Alexander Verlag Berlin Text:Jan Fischer, am 7. Oktober 2022
Da ist die Bühne, da sind die Menschen auf der Bühne. Da ist die Freiheit, jemand anders zu sein, oder ganz woanders. Das Versprechen einer anderen Welt. Das Versprechen einer Utopie. Oder vielleicht auch einer Flucht nach vorn. Also – auf den ersten, flüchtigen Blick – so ziemlich das Gegenteil eines Gefängnisses.
Freiheit hinter Gittern?
Aber nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick (wenn man weit genug schaut) natürlich nicht. Denn da ist, als großes Projekt am Horizont, das Berliner aufBruch-Theater, das in unterschiedlichen Strafanstalten der Stadt mit Inhaftierten Inszenierungen realisiert. „Merkwürdiger Widerspruch“, schreibt Hans-Dieter Schütt, der Herausgeber dieses gerade erschienenen Bandes über das Projekt im Vorwort, „sich in der Kunstausübung nicht benutzen lassen und doch völlig abhängig zu sein – von der Justiz (von der wir alle abhängig sind), von der Lust (und Laune!) der mitwirkenden Insassen; denn plötzlich haben alle ein wenig Freiheit, und die nehmen sie sich.“
Es geht hier also um Freiheit, ein kleines Stück wenigstens: aus der Zelle auf die Bühne. Seit 1997 existiert das Projekt, zunächst nur in der JVA Tegel, später kamen immer mehr Strafanstalten dazu dazu. 2011 erhielt das Projekt den Tabori-Förderpreis. Zum 25jährigen Bestehen in diesem Jahr gibt es nun im Alexander Verlag einen opulenten Band, der die Geschichte des Projektes nachzeichnet – und eben den kurzen und flüchtigen Griff der Insassen nach der Freiheit der Bühne. „Dieses Buch blickt nicht soziologisch, nicht recherchierend auf den Strafvollzug“, schreibt Schütt im Vorwort, „Es ist kein Buch über das Gefängnis, sondern Porträt einer dortigen Extravaganz.“ Über 400 Seiten stark ist dieses Porträt der Extravaganz im Coffee-Table-Format, das – wieder Schütt – weder vollständig, weder Chronik noch Dokumentation sein wolle, sondern „Assoziationspanorama“. Oder, prosaischer formuliert: Eine Materialsammlung.
Beeindruckende Materialmasse
Da sind Schütts poetisierende Ausflüge in vergangene Produktionen, da sind Interviews mit der Produktionsleiterin Sybille Arndt und dem langjährigen Gefängnis-Regisseur Peter Anastassow, da sind wissenschaftliche und journalistische Texte, die sich das Projekt aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten. Da sind Produktionsfotos von Thomas Aurin, der das aufBruch-Theater seit vielen Jahren fotografisch begleitet. Da sind Produktionsplakate aus 25 Jahren, da sind Ausschnitte aus Stückrezensionen, erschienen in unterschiedlichsten Tageszeitungen, da sind Probetagebücher. Und, und, und: Es ist eine beindruckende Materialmasse. Vor allem aber hat Schütt auch Texte und Eindrücke der Insassen selbst gesammelt, so dass in dem Band nicht nur diejenigen zu Wort kommen, die alles organisieren, sondern eben auch die, die das Projekt direkt betrifft. „Wir atmen die gesiebte Luft, wie immer“, heißt es da zum Beispiel, „aber plötzlich ist sie viel frischer als sonst, und im Spiel werden aus gewöhnlichen Raupen – Schmetterlinge.“
Es ist schwer, wegen der Fülle an Material, die der Band enthält, etwas zusammenfassendes, abschließendes zu sagen. Dieses Buch erzählt von vielem: vom Griff nach der Freiheit auf der Bühne, aber auch von institutionellen Hürden, von Theaterproduktion unter schwierigen Umständen und davon, wie notwendig Theater sein kann, aber auch wie unterschätzt. Jedenfalls steckt in dem schweren Band vieles drin, auch und vor allem viel Archiv- und journalistisch Laufarbeit. Gelohnt hat sie sich: „aufBruch. Das Berliner Gefängnistheater“ ist ein Band, der hinter die Gitter schaut und dort sowohl den einfachen Antworten wie auch dem Urteil widersteht. Und als gigantische Collage nicht nur das Berliner Gefängnistheater dokumentiert, sondern immer wieder auch die Frage stellt: Was ist sie eigentlich, diese Freiheit auf der Bühne? Und wie findet man sie überhaupt?
„aufBruch – Das Berliner Gefängnistheater“, herausgegeben von Hans-Dieter Schütt, hat 416 Seiten und ist am 22. Juli 2022 im Berliner Alexander Verlag erschienen. Der Band kann zum Preis von 29, 90 € HIER oder im Buchhandel erworben werden.