Foto: Regina Leenders, Philipp Quest, Ronja Oppelt, Khalil Aassy und Daniel Rothaug in "Welt überfüllt" am Theater Oberhausen. © Jochen Quast
Text:Sarah Heppekausen, am 1. Oktober 2022
In ihren weit fallenden Hosen stehen sie da, in Tüllrock und Turnschuhen. Rollkragen am Hals, Wasserwelle in den Haaren. Für Anna Gmeyners hoffnungsvoll-hoffnungslose Großstädter hat Ausstatterin Franziska Isensee auf der Oberhausener Bühne wunderbar zeitüberspringende Kostüme entworfen. Ein bisschen Glitzer-Glamour der 1920er-Jahre mit Pragmatismus, die in Kombination genauso heute auf den Straßen zu sehen sind. Und jede Figur im schimmernde Anzug trägt ihre dunklen Flecken gleich mit, nicht zuletzt in ihren dunkel umrandeten, traurigen Augen. Es sind die passende Kostüme für diese Sätze: „Ich habe ein Held werden wollen. Ich bin keiner. Ich habe die Welt ändern wollen. Ich kann es nicht.“
Anna Gmeyner (1902-1991) zeichnet in „Welt überfüllt“ den Alltag des Mittelstands in der Weimarer Republik nach. Scheue Verliebte, entlassene Bauarbeiter, grapschende Abteilungsleiter, schwangere Unverheiratete und Kleinkriminelle begegnen sich in ihrer gemeinsamen Erfahrung von Existenznot und Feierlaune, von Verzweiflung und Liebe, von Überforderung und Grenzüberschreitung. Ihr Stück schrieb die jüdische Schriftstellerin im britischen Exil. Es ist ihr letztes Werk, das der Verlag der Autoren 2021 neu auflegte und das Thomas Ladwig am Theater Oberhausen nun zur Uraufführung brachte. Gmeyners Werk wird erst seit ein paar Jahren wiederentdeckt. Die Autorin und Dramaturgin Sasha Marianna Salzmann bescheinigte Gmeyners Volksstück „Automatenbüffet“ bedrückende Heutigkeit, Barbara Frey inszenierte es 2020 an der Wiener Burg.
Ja, es lohnt sich! Dieser scharfe, nie einseitige Blick auf Menschen in Krisenzeiten, auf Täter:innen, die immer auch Opfer sind. Da ist zum Beispiel Tormann, ein Arbeiter, fest in der Spur, denkt man, glücklich mit seiner Braut und mit seinem Boot, an dem er am Wochenende herumwerkelt. Aber dann bricht das Unerwartete über ihn herein: Im U-Bahn-Schacht packt er einen am Kragen, der gerade das Stromkabel gekappt und die Mitfahrenden ausgeraubt hat. Das Erlebte lässt ihn nicht mehr los, manisch verfolgt er die Spur zu diesen Menschen – denn es ist etwas anderes, „wenn man jemanden zwischen den Fingern gehabt hat“. Sein übersteigerter Drang bringt ihn soweit, dass er sogar selbst für 24 Stunden im Gefängnis landet. Und seinen Job hat er auch verloren. Bei Philipp Quest ist dieser Tormann ein vom Leben Bedrängter, getrieben von der Lust, alles richtig zu machen – und zwar 200-prozentig. Das kann nur schief gehen.
Verloren und verlassen
Auch die anderen stürzen ab. Tormanns Braut Nelly (Ronja Oppelt) lässt sich auf die Avancen eines alten Mannes ein, um die Miete zahlen zu können. Erich (Tim Weckenbrock) sucht verzweifelt Arbeit, wird dafür sogar zum (Fahrrad-)Dieb, will sich ertränken, auch das erfolglos. Paul Immergrün ist gleich von Beginn ein Schurke, führt die Räuber-Bande an, bezirzt alle und jede:n, zieht geschickt die Fäden, nur um am Ende sich selbst darin zu verstricken. Daniel Rothaug spielt Immergrün großartig tänzelnd auf einem dünnen Seil, risikoverliebt, immer nah am Absturz, funkelnde Augen und den richtigen Song dabei, um zumindest oberflächlich für gute Laune zu sorgen: „Weil heute Sonntag ist“, schrummelt er auf seiner Gitarre, gnadenlos motivierend bis sie alle mitsingen. Ein Spielmacher, ein hechelnder Zirkusdirektor, ein einsamer Immer-Grinser.
Zu Beginn lastet allen Figuren noch etwas Statisch-Manieriertes an. Regisseur Thomas Ladwig hält sie auf Distanz, zelebriert das gefällige Rollenspiel, das komödiantische Treppensteigen und Aneinander-Vorbeilaufen. Er kostet jede Anspielung aus – ja, Anne Gmeyner hat Sprachwitz. Aber der wirkt stärker, wenn die Inszenierung im späteren Verlauf auch die feinfühligen Zwischentöne zulässt. Dann bewegen Nellys Worte: „Die Erde ist groß, nicht wahr, acht Meere haben drauf Platz und fünf Erdteile. Und der riesengroße Himmel drüber. Und auf dieser großen Welt ist kein Platz für mein kleines Kind?“ Oder die des Arztes Dr. Bach (Simin Soraya): „Es liegt nicht an der Welt. Die ist recht, die ist gut … Aber sie ist in schlechten Händen.“ Erschreckend nah kommen Gmeyners Worte dem Publikum. Die letzten Sätze der Inszenierung schreibt das Oberhausener Team Dr. Bach alias Anne Gmeyner hinzu: „Ich möchte den Tag erleben, wo man vor einem Baum in Blüte steht und sich nicht schämt, ein Mensch zu sein.“ Poesie-Glamour (und das im positivsten Sinne) und Pragmatismus – diese Mischung war Gmeyners Gabe. Und es beschreibt die starken Momente dieser Inszenierung.