Anne Fritsch: Cosmea Spelleken ist so etwas wie eine Theaterheldin im digitalen Raum. Während der Lockdowns hat sie mit ihrem Kollektiv punktlive gezeigt, wie spannend und vor allem wie live Theater auch im Netz sein kann. Sie hat Goethe („werther.live“) und Tschechow („möwe.live“) mit der Kamera adaptiert und so unbefangen sowohl mit dem jeweiligen Stoff als auch mit den sozialen Medien gespielt, dass ihre „Werther“-Version sogar noch zu Festivals eingeladen wurde, als längst wieder analog gespielt werden konnte. Kurz: Sie hat aus einer Notlösung eine neue Kunst gemacht. Nun hat Jan-Philipp Gloger, Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg, sie für eine hybride Produktion ans Haus geholt. Und Spelleken nimmt sich wiederum einen bewährten Stoff vor, die „Odyssee“ von Homer. Sie konzipiert „Odysseus.live“ als Talkshow-Format. (Siehe auch der Werkstattbericht im aktuellen Heft der Deutschen Bühne.) Mit Live-Publikum im (Theater-)Studio und einem Online-Publikum zuhause vor dem Bildschirm. Im Theater selbst wird man erstmal von einem Anheizer motiviert, möglichst laut zu reagieren, zu klatschen, zu jubeln, auch: zu buhen, wenn eine Äußerung nicht gefällt. Hauptsache, es ist was los im Studio, das sich überträgt in die Welt da draußen. Dann begrüßt Amadeus Köhli, der den smarten Moderator spielt, das Publikum – die Live-Übertragung nach draußen ist gestartet. Wie kam dieser Anfang vor dem Monitor an?
Detlev Baur: Bei mir hat die Übertragung die ersten zehn Minuten ziemlich geruckelt. Ich habe aber doch verstanden, dass der Moderator in der Garderobe seinem Gast noch empfahl, „sei ganz du selbst“. Und dass im Studio Ithaka ein Retro-Stil (Bühne: Linda Siegismund) gepflegt wird: Das Logo erinnerte mich an das alte ZDF-Bild, der präsente Moderator spielte eine Mischung aus US-Talkmaster und Harald Schmidt (in seiner großen Zeit zu Anfang des Jahrhunderts). Penelopes Start, als würdige und distanzierte Dame wurde von Sabine Fürst beeindruckend gespielt, mit einer immer angedeuteten Verletzlichkeit. Das machte schon neugierig und das Tempo wurde von Amadeus Köhli auch hochgehalten. Dennoch war im Vergleich mit den vorangegangenen Klassiker-Streams von Cosmea Spelleken das Format am Bildschirm nicht so packend. Auch wenn ein gut getexteter und graphisch schön gestalteter Einspieler über die Vorgeschichte, nämlich den Trojanischen Krieg, in die Sendung eingespielt wurde, blieb es im wesentlichen halt bei einer Pseudo-Fernsehübertragung. Das ist unterhaltsamer als abgefilmtes Theater, hat mich insgesamt aber nicht wirklich in das Schicksal der Figuren hineingezogen. Eine Talkshow ist doch eine statische Inszenierung, die allenfalls an der Oberfläche der Protagonisten kratzt. Wie ging es Dir im „Studio“ mit dem Schicksal von Penelope, Sohn Telemachos und dem Rückkehrer Odysseus, der 20 Jahre von zu Hause fort war?
Anne Fritsch: Der große Auftritt von Odysseus, dem Kriegshelden, wird einer perfekten Dramaturgie folgend vorbereitet. Erst tritt wie von dir beschrieben Penelope, die Gattin auf, die ihm 20 Jahre lang die Treue hielt, alle anderen Bewerber abwies und nie die Hoffnung aufgab. Ihre Performance vor der Kamera ist staatstragend. Stufe 2 dann: Telemachos, der Sohn, der seine ganze Kindheit lang in einem mit den Heldenpostern des Vaters tapezierten Zimmer verbracht hat und dem Abwesenden Bilder gemalt hat. Seine Rolle: Sohn eines Helden. Jonny Hoff spielt ihn als einen, für den bei der medialen Omnipräsenz des Vaters wenig eigener Raum bleibt. Und dann endlich: Odysseus. Ein unscheinbarer Anzugträger mit Brille und Bart. Thorsten Danner spielt ihn sehr verhalten, beinahe schon abweisend. Pflichtschuldig erzählt er von seinen Irrfahrten, stapelt hie und da tief („Wir hatten eine unruhige Nacht“ – in der Höhle des Kyklopen!), findet sich aber insgesamt schon sehr schlau. Ich habe diesen ersten Teil nach dem anfänglichen Elan einigermaßen mühsam gefunden, es hatte was von pflichtschuldiger Nachhilfestunde in griechischer Mythologie. Die Momente, in denen das glatte Heldenbild Brüche bekamen, waren kurz. Wenn Menelaos in einer Videoschalte heitere Kameraden-Party-Bilder aus dem Krieg präsentierte beispielsweise. Oder wenn Athene und Hermes in einer Live-Schalte auf den Olymp die amourösen Abenteuer des Odysseus so betonten, dass es im Studio spürbar angespannter wurde – und Penelope schließlich um eine Pause bat. Wie ging es Dir damit und: ging die Übertragung während der Pause weiter?
Detlev Baur: Auch in der Pause zeigte sich, dass man beim Stream eher in der zweiten Reihe saß, da gab es – nach einem kurzen Garderobengeplänkel mit erschütterter Penelope und genervtem Sohn und einem Versuch des Moderators, den Thronfolger für eine neue Reihe zu gewinnen – nur eine freundliche Texteinblendung. Auch Odysseus und Telemachos fand ich darstellerisch interessant, beide deuteten eine Brüchigkeit der Fassade an; das führte bei mir dazu, dass ich mich in den Zuschauerraum wünschte, um näher dran zu sein. Nach der Pause wurde aus der Talkshow dann eine Spielshow, mit möglichst vielen Antworten in kurzer Zeit auf Fragen aus der Familien- und Kriegsgeschichte rund um die „Odyssee“. Zur Sache ging’s dann, als Telemachos seinen Vater auf offener Bühne zu seinen Frauengeschichten mit Circe und Kalypso befragte. Aber die Eskalation blieb doch sehr im Rahmen – jedenfalls auf meinem Bildschirm. Ich hatte nach den angedeuteten Konflikten im ersten Teil einen stärkeren Bruch auch im statischen TV-Format erwartet. Und inhaltlich wurde mir nie ganz klar, worum es vor allem geht: Das Heldenbild oder das – derzeit so präsente – Thema Krieg? Oder doch vor allem um die ja schon sehr elegant ausgeführte Aktualisierung eines fernen Stoffes der Weltliteratur. Die funktioniert ganz gut, führt aber über die angedeuteten Kratzer in der schönen Welt der Königs-Familie nicht hinaus. Oder sind für Dich vor Ort die unterschiedlichen Heldenbilder in Antike und Gegenwart bei „Odysseus.live“ in einen anregenden, dramatischen Dialog getreten?
Anne Fritsch: Bei uns im Theater konnte man in der Pause Selfies mit Odysseus machen, ganz im Sinne der medialen Vermarktung des Helden. Schade, dass da bei Euch online nicht mehr geboten war. – Die schnellen Frage-Antwort-Runden, die bewusst oberflächlich gehalten waren, um die Seichtheit derartiger Fernseh-Formate vorzuführen, bargen arg das Risiko, selbst in die Belanglosigkeit abzurutschen. Als Telemachos dann aber seinen Vater in die Mangel nahm, gewann der Abend für mich durchaus an Brisanz. „Ein Pressestatement nach dem anderen“, warf er ihm an den Kopf. Und: „Das passt doch alles nicht zusammen!“ Es gelingt ihm, den verschlossenen Vater aus der Reserve zu locken, und plötzlich ist da eine Energie zwischen den Figuren, die so lange gefehlt hat. „Ist das der Eindruck? Dass wir da einen lustigen Betriebsausflug gemacht haben?“, bricht es aus Odysseus heraus. Die Fallhöhe, die Spelleken durch den Show-Glamour konstruiert hat, ist hoch: vom aalglatten Politiker-Helden wird Odysseus zu einem traumatisierten Veteranen. Einem, der nicht nur Heldentaten vollbracht hat, beziehungsweise dessen sogenannte Heldentaten zum Teil eben darin bestanden, grausame Morde, auch an Kindern, zu begehen. Da ist er dann auch auf einmal: der scheinbar unüberwindbare Graben zwischen denen, die den Krieg erlebt haben, und denen, die ihn medial verfolgt haben. Zwischen Vätern, die aus dem Krieg kommen, und Söhnen, die Antworten verlangen. „Ihr habt doch alle ein Bild von mir, habt Filme und Pappaufsteller. Wie soll ich denn ich selbst sein?“, schreit Odysseus. Und: „Ich hab Sachen gemacht, die will ich gar nicht erzählen, da bin ich froh, dass ich sie abgekapselt habe.“ Da, am Ende, hat auch der lange Vorspann vor diesem Finale auf einmal Sinn gemacht Für mich ging es an diesem Abend um die Frage, wie wird ein Held gemacht? Und was macht das mit diesem Helden und seinen Angehörigen? Am Ende hat Spelleken hier mit ihrem Publikum (zumindest dem live anwesenden) ein kluges Spiel mit Konstruktion und Dekonstruktion gespielt, mit der Realität und ihrer medialen Aufbereitung. Der Moderator, der die Eskalation schließlich unterbricht, als es zu brutal wird für das TV-Format, endet mit den Worten: „Wir brauchen neue Helden.“ Das Spiel ist noch lange nicht aus.