Ein klecksbuntes Künstlerpaar: Hoffmann (Aldo di Toro) und seine Muse (Maren Engelhardt)

Auf halbem Wege

Jacques Offenbach: Les Contes d'Hoffmann

Theater:Staatstheater Kassel, Premiere:24.09.2022Vorlage:Verschiedene ErzählungenAutor(in) der Vorlage:E.T.A. HoffmannRegie:Claudia BauerMusikalische Leitung:Mario Hartmuth

Da war man ja doch gespannt: In den letzten Jahren hat die Schauspielregisseurin Claudia Bauer eine ganze Reihe von beachtlichen Inszenierungen vorgelegt, zuletzt bekam ihr Ernst-Jandl-Projekt am Volkstheater Wien „humanistää!“ eine Einladung zum Berliner Theatertreffen. Schon das wurde im Untertitel stolz als „eine Abschaffung der Sparten“ herausgestellt. Und nun firmiert auch ihre Inszenierung von Jacques Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“ am Staatstheater Kassel als „gemeinsame Produktion von Musiktheater und Schauspiel“. Nun ja – dass in Hoffmanns Werken Schauspielkünstler mitmachen, ist nichts Neues, sein „Hoffmann“ bleibt trotzdem eine Oper. Und so darf man mit Fug und Recht das Operndebüt der erfolgreichen Schauspielregisseurin Claudia Bauer vermelden. Es gelang ihr nicht schlecht: frech, unterhaltsam – insgesamt aber unspektakulär.

Zunächst empfiehlt es sich, das Programmheft vorher nicht zu lesen. Da schwurbelt es nur so von Kritik an den Geschlechterbildern und der neuen Rolle des Menschen in einer Post-Gender-Welt, dass einem schier Angst und bange werden könnte um den romantisch scheiternden Liebeshelden Hoffmann. In Praxi aber knüpft Bauer plausibel da an, wo Offenbach bereits einen Anfang gemacht hat: an seiner Exposition von typisch romantischen Frauenverklärungsklischees im mondänen Paris des Zweiten Kaiserreichs und darüber hinaus. Hoffmann kritisiert diese Frauenbilder – Olympia, die femme atrificielle, Antonia, die femme fragile, Giulietta, die femme fatale – nicht explizit. Aber er stellt sie aus als drei Wesenszüge seiner geliebten Stella, der erfolgreichen Operndiva. Und er dürfte sich sehr bewusst gewesen sein, dass er sich damit im Bereich der artifiziellen Klischees eines mondänen Kulturkosmos bewegte, der sein Personal durch solche Projektionen umso interessanter machte. Heute nennen wir solche Kulturtechniken eine tolle „Performance“.

Anzeige

Eine Ausnüchterung

Andreas Auerbach hat ein Foyer von kühler 60er-Jahre-Holzvertäfelungseleganz auf die Bühne gebaut. Es könnte zu einem Theater (zum Beispiel dem Kasseler) oder einem Hotel gehören. Es müffelt optisch ein bisschen nach Bohnerwachs und Anna Viebrocks Poesie trostlos gealterter Räume. Aber dieser Raum ist cleaner. Der lange Tresen einer Bar lässt sich herein- und herausschieben, ein von oben herabschwebender steinglatter Frauenkörper-Torso sowie zwei Vorhänge bieten sich als Projektionsfläche bizarrer Videos (Jonas Alsleben) an. Die Kostüme von Vanessa Rust und Patricia Talacko vermeiden Opulenz wie auch Alltagsrealismus, sie wirken als hätte man sich im Kostümfundus bedient, dabei aber auf Sparsamkeit geachtet. Wo sie ins Skurrile ausgreifen – in den Olympia-Kostümen etwa, goldene Bodysuites mit plastisch applizierten Geschlechtsmerkmalen, oder in den ähnlich exponierten Gesäßen und Brüsten der Choristen – typisieren sie die Figuren artifiziell.

Bauer nüchtert Offenbachs mondäne Champs-Élysée-Opulenz gezielt aus – aber nur, um sie von da aus um so lakonischer zu überzeichnen. Dabei sind ihr vor allem Iris Becher, Annalena Haering und Annett Kruschke sehr behilflich, drei Schauspielerinnen (sic!), die anfangs auf einem Video als dreifache Stella in weißer Divenrobe zur Opernbühne schreiten und in den drei Mittelakten immer mal wieder die Handlung unterbrechen, um den dominanten Charakterzug der jeweiligen Heldin – Olympias roboterhafte Willfährigkeit, Antonias artifizielle Hinfälligkeit und Giuliettas vamphafte Erotik – schrill zu parodieren. Dabei sondern sie auch gern mal laut geplärrte Wortkaskaden ab, die aber kaum zu verstehen sind. Nur am Ende, wenn sie als dreifache Stella leibhaftig wieder in Luthers Keller auftauchen und einen minutenlangen Sermon zur Überwindung der Genderklischees chorisch herunterleiern, versteht man sie ganz gut. Das hätte es aber nicht mehr gebraucht, dazu war längst alles gezeigt – es sei denn, dass Bauer damit auch die Klischees der aktuellen Genderdiskurse karikieren wollte. Das wäre eine aparte Frechheit und läge in der strukturellen Konsequenz des Abends, denn das Trio fungiert ja konsequent als Medium der Überzeichnung. Aber ganz klar wird auch das an diesem Abend nicht.

Unentschlossen

Und genau da, in dieser Unentschlossenheit, findet die Inszenierung – die auf Basis der Editionen von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck den heute üblichen Ablauf dieses vom Komponisten nicht mehr vollendeten Werkes bietet, aber doch mit einigen eher selten gespielten Szenen – auch ihre Grenzen. Sie wandelt unterhaltsam und ja, oft ziemlich lustig, auf Offenbachs thematischen Spuren. Aber sie bleibt auf halbem Wege stehen. Weder dekonstruiert sie das Werk substantiell (wozu es sich aufgrund der überlieferungsbedingen Offenheit seines Werkcharakters anböte), noch entwickelt sie neue, radikale Bezüge zu unserer Gegenwart. Schon die Personenführung bleibt viel zu sehr in altbekannter Opernkonfektion hängen, aktuelle Referenzen der angesprochenen Themen werden angetippt, aber nicht konsequent verfolgt.

Es gibt Anspielungen auf „This Is Not a Lovesong“ der Rockband mit dem wunderbar zum Thema der Inszenierung passenden Namen Public Image Ltd – und es könnte entlarvend sein, Offenbachs Frauentypologie auf die Gender-Klischees der heutigen Mode- und Unterhaltungsindustrie zu projizieren: Hat nicht auch Amy Winehouse etwas von einer Antonia? Ist nicht Modanna eine ähnlich künstlich zusammenmontierte Ikone verfügbarer Weiblichkeit wie Olympia? Klar: In den Frisurengebirgen, die die drei Stella-Schauspielerinnen zur Schau tragen, kann man, wenn man will, die ikonische Beehive-Frisur der Winehouse wiederentdecken; oder in Antonias Babydoll-Aufmachung Anspielungen auf gewisse Madonna-Auftritte. Aber da das nicht wirklich entwickelt wird, weiß man nicht, ob das überhaupt gemeint ist.

Die Sänger geben die Impulse

Auch musikalisch hinterließ die Premiere ambivalente Eindrücke. Die Sänger sind großartig! Sie dominieren den Abend, sie geben der Musik die Impulse – aber das Orchester säuselt meist nur freundlich dazu. Mario Hartmuth als Dirigent der Aufführung gibt dem Orchesterspiel keine Dringlichkeit und wenig Kontur. Er koordiniert nur – und auch das leider nicht immer erfolgreich, es gab etliche rhythmische Wackelkontakte. Aldo di Toro jedoch singt einen hinreißenden Hoffmann: wunderbar französisch-geschmeidig im Timbre, mit toller Registermischung, wo nötig, und mit Schmelz, Schmalz und Feuer, wo möglich. Gegen Ende scheint es, dass diese Monsterpartie an die Grenzen seiner Kraft geht; aber selbst damit geht er technisch enorm geschickt um. Judith Spießer hat sich getraut, alle drei Frauenpartien zu singen. Und als Koloraturen zwitschernde Olympia ist sie brillant, im Wiederholungsteil ihres Couplets verziert und oktaviert sie mit atemberaubender Virtuosität. Die sich in den Tod singende Antonia charakterisiert sie mit ihrer schlanken, hellen und leuchtend klaren Stimme sehr einfühlsam, und auch ihre Giulietta hat bezaubernde Schönheit – aber dann doch nicht die dramatische Kraft, die für diese lyrisch-dramatische Partie nötig wäre. Dennoch: eine tolle Leistung!

Toll besetzte kleinere Partien

Stefan Hadžić ist ein viriler Lindorf, Coppelius, Mirakel und Dappertuto: er hat Kraft, schön strahlendes Timbre, die Stimme ist jugendlich schlank, aber absolut tragfähig. Anstelle eines ältlichen Rivalen stellt er Hoffmann einen Widerpart auf Augenhöhe gegenüber, was deren Duell umso spannender macht. Maren Engelhardt singt die Muse wunderbar einfühlsam, aber ihr Mezzo könnte für diese Partie durchaus ein bisschen mehr Gewicht und Volumen haben. Bemerkenswert auch viele der kleineren Partien – der Spalanzani von Daeju Na beispielsweise, weil er dem Tenorbuffo schöne jugendlich-agile Noten gibt. Sam Taskinen ist ein wuchtig-markanter Krespel, Steven Ebel gibt Andrés, Cochenille, Frantz und Pitichinaccio schönem, weichen, flexiblen Tenor. Und Marco Zeiser Celesti schließlich hat den Chor ausgezeichnet vorbereitet.

Das Publikum applaudierte diesem Fest der Stimmen begeistert – und war über Claudia Bauers kleine Frechheiten nur mäßig verärgert.