Christopher Rüping ist auf Ali Abbasis Film „Border“ gestoßen, ein ungewöhnlicher Mix aus Realismus und Fantasy, der 2018 in Cannes die Auszeichnung in der Reihe „Un Certain Regard“ gewonnen hat. Darin geht es um eine schwedische Zollbeamtin, die mit einer besonderen Fähigkeit ausgestattet ist: Sie kann Schmuggler olfaktorisch überführen. Auch sonst ist sie ein seltsames Wesen: Mit deformiertem Gesicht lebt sie im Wald. Bis sie eines Tages auf einen Gleichgesinnten trifft. Das klingt wie ein Märchen und ist es auch. Aber wie Rüping und sein Team den Stoff anpacken, das geht weit über ein märchenhaftes Setting hinaus. „Border“: Der Titel ist Programm auf mehreren Ebenen: Da ist die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Theater und Leben, zwischen denen, die dazu- und denen, die nicht dazugehören.
Zwischen Fiktion und realem Setting
Wiebke Mollenhauer ist in Rüpings Inszenierung jene Tina, die ihren Ort in der Gesellschaft nicht finden kann. Aus dem Publikum ruft Maja Beckmann sie auf die Bühne: eine androgyne Gestalt, bleich, mit strähnigen Haaren, wortkarg bis zum Schweigen. Und damit das Gegenteil von Beckmanns Plaudertasche: Beckmann spielt Beckmann, sie erzählt, dass sie nach drei Jahren Zürich jetzt zurückgeht nach Hamburg: Sie habe sich von der Stadt nicht angenommen gefühlt. Auch außerhalb gewohnt, in Witikon, nahe am Wald. In der Nachbarschaft zu Tina eben. Und hier gleitet das reale Setting unweigerlich in die Imagination hinüber. Charlie, Maja Beckmanns Kind, sei ihr plötzlich abhanden gekommen.
Und so stülpt sich machtvoll die Fiktion über Beckmanns lustige „Abschiedsvorstellung“ – und mit ihr gewinnt die blasse Figur der Tina zunehmend an Macht und Freiheit. Wer sie sei, fragt sie den Mann, den sie als Elf identifiziert. Und er spricht ihr eine neue Identität zu: „Du bist ein Troll“ Welche Verwandlung bei Wiebke Mollenhauer das auslöst: Auch das ist ein magischer Moment. Sie tobt, schreit, grimassiert ins Publikum: „Ich bin ein Troll!“ Aber Trolle gibt es doch nicht?
Die Geschichte, die Lillie ihr dann erzählt, ist eine Geschichte von brutaler Ausgrenzung und erzwungener Anpassung. Eine Geschichte, wie zu allen Zeiten Menschen Grenzen zwischen sich und den anderen markiert haben. Kann das Theater Grenzen niederreißen? Es kann sie zumindest bewusst machen. Das gelingt Christopher Rüping mit diesem sehr besonderen Abend in ganz ungewöhnlicher Weise. Mit märchenhaften Mitteln. Und – natürlich – mit grandiosen Schauspielern. Diese drei sind eine Klasse für sich.