Festival für Zeitgenössisches Theater SPIELTRIEBE

Vom 9. bis 11. September fanden am Theater Osnabrück zum neunten Mal die „Spieltriebe” statt: Ein Festival mit jungen Autor:innen und Regiehandschriften, neuen Stücken und zahlreichen Begegnungen mit dem Publikum zum diesjährigen Schwerpunkt Türkei.

Nach der Sommerpause frisch reanimierte Spieltriebe wecken, raus damit aus dem Theater und jungen Regisseuren, Bühnen- und Kostümbildnern reale Räume als Experimentierorte öffnen für zeitgenössische Dramatik und neue Darstellungsformen – so setzt das von Holger Schultze am Theater Osnabrück etablierte Festival seit 2005 auf Nachwuchsförderung, Stadteroberung und Spielzeiteröffnungs-PR. Mit zehn Eigenproduktionen führt der neue Intendant Ulrich Mokrusch die Tradition fort. Busse und Stadtführer leiten das Publikum nach dem gemeinsamen Besuch von „antigone (ein requiem)“ in fünf Gruppen durch die Stadt, aber auch hinaus auf den Hasefriedhof, in eine Psychiatrie-Klinik oder die Open-Space-Arbeitswelt eines Unternehmensberaters. Seltener anzutreffen als zuletzt sind in diesem Jahr die mal fulminant scheiternden, mal verblüffend triumphierenden Verrücktheiten weit jenseits des Stadttheateralltags – und dass Regisseure besonders jung sein müssen, ist auch nicht mehr essentiell. Aber an sonst verschlossenen, ruinierten oder unbekannten Orten frische Klänge, Texte und Bewegungen zu erproben, dabei die Ensembles in ganz neuen Kontexten und Zuschauer im Gespräch kennenzulernen, ist auch anno 2022 ein Fest.

Schwerpunkt: Türkei

Das Schwerpunktthema dieser Spielzeit und damit auch des Festivals lautet: Türkei. Dass es zu keiner Feier des autokratisch repressiven Erdoğan-Regimes kommt, dafür bürgt schon einer der Aufführungsorte, das seit fast 15 Jahren auf den Abriss wartende Kaufhaus am Neumarkt. In einer riesig leeren Etage haben sich die Theatermacher eingenistet. Eingetretene Wandverkleidungen, Sprayerei, ein zersplitterter Fahrstuhlschacht, zerstörte Rolltreppen, „Es lebe billig“-Plakate akzentuieren das heruntergekommene Ambiente. Ideal für Ali N. Askins eher impressionistische denn dokumentarische Musiktheatercollage „insan. insaat. istanbul“.

In Kurzszenen wird die nicht touristische Seite der Metropole beleuchtet. Die Sänger spielen Obdachlose, rollen mit Einkaufswagen herein und improvisieren ihr Nachtlager. Wassertropfgeräusche werden von Flöte und Kontrabass aufgenommen, Eimer der undichten Decke entgegengereckt, der Boden gefeudelt. Der Komponist ergänzt Audioaufnahmen des Großstadtlärms gern perkussiv, auch mal rockgitarrig treibend und arrangiert einen minimalistisch zurückhaltenden Soundtrack. Etwa für die Armut der Bosporus-Fischer, Pogromstimmung gegen Griechen oder die Annehmlichkeiten der Badekultur. Regisseur Christian von Götz verschafft den reizvollen szenischen Miniaturen dezent Präsenz, einige verlieren sich aber in der weitläufigen Tristesse der Kaufhausetage.

Jugendtheaterstück über eine Deutsch-Türkin: „Ellenbogen“

Dort findet mit Fatma Aydemirs „Ellenbogen“ der Jugendtheatersparte die Desillusionierung des Sehnsuchtsorts Istanbul gleich nochmal statt. Nun flieht die 17-jährige Hazal dorthin, nachdem sie in Deutschland einen Studenten vor die U-Bahn gestoßen hat. In der neuen Umgebung entdeckt Hazal ebenso machoekelige Männer wie in ihrem Geburtsland, sieht noch größeres Elend und wird als Deutsch-Türkin erneut abfällig behandelt. Aber auf die genaue Beschreibung der politischen Situation in der Türkei verzichtet die Aufführung ebenso wie auf Ausführungen zum Erdoğan-devoten Denken in der patriarchalen Berliner Familie Hazals.

Aus der transkulturellen wird so eine grundsätzliche Coming-of-age-Story, in der es vor allem um Handys, sexy Outfits, schöne Jungs, Vodka, Party, Sex und Joints geht. Wobei Hazal allerdings fast alles verboten ist, was Spaß macht. Es herrscht eine Atmosphäre fortwährender Beklemmung, Angst und Gewalt – daraus erwächst drangvolle Grenzüberschreitungslust. Milieusatt wird diese in der Vorlage aus dreifacher Ausgrenzung hergeleitet – nämlich, als junge Frau in der türkischen Community sowie aufgrund des Migrationshintergrunds und der eher bildungsfernen Familie in deutschen Communitys.

Ellenbogen

Szene aus „Ellbogen” © Uwe Lewandowski

Die Bühnenfassung arbeitet all das nicht deutlich als Grund für den Deutschen-Hass und folgenschweren Befreiungsschlag heraus. Statt eines forschen Regiezugriffs kommt bei Caner Akdeniz zudem nur ein bisschen Video zum Einsatz, damit mehr Zuschauer als nur die in der ersten Reihe etwas sehen. Musikzuspielungen gibt es auch und ein Koffer voller Erde wird über der Protagonistin ausgekippt. Die Hazel-Darstellerin bemüht sich um ruppig-ängstliche Teenie-Authentizität, agiert dabei aber ähnlich wie in Selbstinszenierungsvideos der sozialen Medien. So verpufft das spannungsreiche Thema in einer szenischen Lesung.

Schwulsein am Bosporus: „So weit weg (Tevâfuk)“

Mutiger wirkt „So weit weg (Tevâfuk)“ von Şâmil Yılmaz, der leider nicht nach Osnabrück reisen konnte, weil ihn die türkischen Behörden den Pass abgenommen hatten, schreibt er doch über schwules Leben am Bosporus. Was dort zwar offiziell nicht verboten, aber sozial geächtet scheint. In dem Zwei-Personen-Stück hat sich ein verklemmter 28-Jähriger aus sehr reichem Hause einen rauen Typen von der Straße geordert, der im Internet mit einem 19 Zentimeter langen Penis und Küssen-inklusive-Preisen für sich wirbt. Er soll seinem Kunden Anbaggertechniken beibringen, um das erste Mal vorzubereiten.

Soweit Weg

Szene aus „So weit weg” © Uwe Lewandowski

Schnell wird klar: Der eine sucht Liebe, der andere will Geld und Sex. „Ich ficke dich ins Koma“ ist einer seiner Lieblingssätze. Die disparaten Männerrollen werden zunehmend durch Gefühlswallungen aufgeweicht, das Machtverhältnis zwischen dem empfindsamen Softie- und bollerigen Brutalo-Typen verschiebt sich. Zwei Männer kommen einander näher und akzeptieren final ihre Zuneigung. Ein leidenschaftsprotzender Fick wird angedeutet. Wer sowas noch nie gesehen hat, nimmt das womöglich neugierig zur Kenntnis. Vor allem, weil es um zwei Türken geht. Würde aber behauptet, hier interagieren ein Blankeneser Millionärsjüngling und ein St.-Pauli-Stricker, hätten wohl die meisten Dramaturgen diesen Text als banal abgelehnt. Auch, weil fast komplett darauf verzichtet wird, das gesellschaftliche Klima mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten für homosexuelles Leben in Istanbul zu vermitteln. Immerhin hauen sich die Darsteller unter Anleitung von Ebru Tartıcı Borchers mit Verve in die Rollen. Unmöglich scheint es nach dem Besuch von „Ellenbogen“ und „So weit weg (Tevâfuk)“, zumindest ansatzweise einzuschätzen, ob es in der Türkei schwieriger ist schwul oder eine Frau zu sein.

„Kick.Flip.Tanz“ mit Partystimmung

Und wo bliebt das empathische, informative, politisch engagierte, handwerklich brillante und ästhetisch packende Erlebnis? Vielleicht habe ich die falschen Routen ausgewählt. Es ist ja völlig unmöglich, alle Produktionen an den drei Festivaltagen zu sehen. Richtig Spaß gemacht hat das Tanzensemble in einer Skatehalle: „Kick.Flip.Tanz“. Marguerite Donlon animiert zu pittoresken Aufwärmübungen mit Tuch, Reifen, Trampolin und Bändern oder lässt im Techno-Beat zuckende Bewegungen auf den Bahnen, Rampen und Rails der Anlage zelebrieren. Das funktioniert als locker machender Prolog zur Animation des Sitzpublikums – zum Mittanzpublikum. Partystimmung!

Szene aus „Kick.Flip.Tanz”

Szene aus „Kick.Flip.Tanz” © SwaantjeHehmann

Als Kontrapunkt funktioniert spielerisches Erzähltheater mit kraftvollem Spannungsbogen und überzeugenden Darstellerinnen. Mathias Spaan inszeniert „Das wirkliche Leben“, Romanbestseller von Adeline Dieudonné, als radikal emanzipatorischen Aufschrei, verrohte Haustyrannen nicht länger leidvoll zu erdulden, sondern lieber zu erschießen. Eine provozierend radikale Selbstbehauptung. Solche widersprüchliche Angebotsvielfalt zeichnet die Spieltriebe 2022 aus.