Foto: © Ludwig Olah
Text:Thilo Sauer, am 4. September 2022
Nur die Menschen verbeugen sich nach der Aufführung. Eine lange Reihe von Sängerinnen und Sängern, Komponisten und Autorinnen steht am Fuße einer Treppe in der Mitte der Bühne der Dresdner Semperoper. Am oberen Ende steht die übermenschlich hohe Skulptur, in der die Künstliche Intelligenz (KI) ihren Auftritt hatte. Ganz still und fast im Dunkeln bewegen sich die Leuchtpaneele im Hintergrund.
Dabei hat die KI einen sehr wichtigen Beitrag zur Oper „chasing waterfalls“ geleistet: Christiane Neudecker hat das Libretto mit GPT-2 geschrieben, eine öffentlich zugängliche KI für Textschöpfung, die vielleicht für so rätselhafte Zeilen wie „Wir sind der sieben und der acht/sieben blieben, acht und Nacht“ verantwortlich ist. Neudecker behielt das letzte Wort, hat Textmaterial verworfen und arrangiert. Um das Thema zu verdeutlichen, tritt in der sogenannten Artificial Intelligence Oper auch eine echte KI auf: Mithilfe von Deep Learning und Gesangsaufnahmen setzt der Computer die Komposition des Künstlers Angus Lee aus Hongkong um. Doch die Rolle der KI geht über die Funktion einer Interpretin hinaus: In einer Szene darf sie sozusagen improvisieren (wobei genau genommen mehrere Programme zusammenarbeiten). Anhand klarer Vorgaben stellt sie Text zusammen, den sie im Moment der Aufführung zu Gesang umwandelt. Ein musizierender Computer.
Ewig gleicher Kampf
Die Oper „chasing waterfalls“ beginnt mit einer alltäglichen Situation im Internet: User müssen beweisen, dass sie keine Maschinen sind. An diesem Tag hat die Protagonistin (Eir Inderhaug) große Probleme, die Maschine von ihrem Mensch-Sein zu überzeugen. Als sie das geschafft hat, taucht sie in die virtuelle Welt ein, wo sie sich mit der Frage nach dem eigenen Ich konfrontiert sieht. Dafür haben Regisseur Sven Sören Beyer und Ausstatter Pedro Richter beleuchtete Glas-Kuben auf die Bühne gestellt. Die Treppe wird zunächst zur Animationsfläche, auf der Code-Zeile wie bei Matrix herunterfließen, später wird es echtes Wasser sein. Oben steht der schwarze Monolith, über den ebenfalls Leuchtpunkte laufen, bis sich die Leuchtbalken bewegen, in Rot und Weiß aufblitzen.
Die Protagonistin begegnet ihren Digital Twins, virtuelle Abziehbilder in silberschimmernden Kleidern mit einzelnen Wesenseigenschaften. Tania Lorenzo springt als Kind energetisch über die Bühne und Julia Mintzer legt ansteckende Euphorie in die Stimme des Glücks. Simeon Esper überzeugt mit weinerlich wirkendem Gesang als Zweifel, während Sebastian Wartig als Erfolg und Jessica Harper als Schein mit beeindruckender Intensität auf die Protagonistin einsingen. Was genau diese Digital Twins sein sollen, wird nicht ganz klar: Sind sie Rollen, die wir im Netz spielen, oder Algorithmen, die uns spiegeln und die fragwürdigen Angebote auf Facebook und Google für uns raussuchen?
Leider ist die Handlung nicht so innovativ, wie die Idee hinter der Oper. „chasing waterfalls“ stellt eine Frage, die seit Jahrhunderten immer wieder neu verhandelt wird: Wer bin ich? Und angesichts immer klügerer KIs reicht das eigene Denken (Descartes‘ „Cogito ergo sum“) nicht mehr aus, um sich als selbstständiges Wesen zu definieren. In diesem Sinne will auch die KI in der Oper als ein Ich gesehen werden – und deswegen als Antagonistin das Leben der Protagonistin übernehmen. Diese Geschichte beschäftigt die Science-Fiction schon seit mehr als 100 Jahren und wirkt auserzählt.
Faszinierende Show
Der Komponist Angus Lee hat klassische Kompositionsarbeit geleistet: Seine Musik ist flächig und wird von liegenden Klängen bestimmt, aus denen kleine Figuren beispielsweise in der Flöte ausbrechen. Unterstützt wird das Ensemble durch eine elektronische Klangkomposition des Berliner Studios Kling Klang Klong, die zwar wenig überraschend klingt, aber da sie über Lautsprecher im ganzen Saal abgespielt wird, das Publikum in die virtuelle Welt hineinzieht.
Die Gruppe phase 7 ist für ihre Experimente bekannt. Doch um von „chasing waterfalls“ beeindruckt zu sein, muss man eingeweiht sein – und das macht es umso faszinierender. Wer nicht weiß, dass eine KI singt, wird leicht an eine Aufnahme glauben: Die Künstliche Stimme wirkt blechern und ruft gelegentlich seltsame Soundeffekte hervor. Der Gesang ist vielleicht empathielos, aber immer klar. Dass die KI scheinbar ihren Einsatz verpasst, macht es etwas gruselig. Ihr gegenüber steht Eir Inderhaug: Obwohl sich die Stimmen ähneln, ist bei der kohlenstoffbasierten Sängerin – die sich mit bemerkenswerter Sicherheit in die Höhe schraubt – mehr Gefühl und Ausdruck hörbar.
„chasing waterfalls“ ist eine Show und als solche gelungen. Mit Faszination verfolgt das überdurchschnittlich junge Publikum den Dialog zwischen menschlicher und künstlicher Sängerin. Die Geschichte wirkt an einigen Stellen trashig, aber die Bilder sind beeindruckend. Die Aufführung zeigt, wie erstaunlich viel KI schon kann. Wir müssen uns aber noch lange keine Sorgen machen, dass Computer unsere Opernhäuser übernehmen. In Verdi-Partien werden Menschen noch lange überlegen sein. Doch sicher lohnt es sich, das Experiment zu wiederholen, der KI noch mehr Raum zu geben – wer weiß schon, was die Maschinen in Zukunft für Geschichten erzählen und für Musik schreiben werden?