Kino: „Evolution“
Text:Andreas Falentin, am 8. September 2022
Dieser Film ist eine echte Zumutung, ein scharfer Blick in unsere Zeit – und gleichzeitig ein Beispiel für ungewöhnlich gut gelungenen Medientransfer.
Die Theateraufführung
2019 zeigte der Regisseur Kornél Mundruczó „Evolution“ bei der Ruhrtriennale, ein „Triptychon“ mit dem Text seiner künstlerischen und Lebenspartnerin Kata Wéber. Eine wesentliche Rolle hierbei spielte Györgi Ligetis live musiziertes „Requiem“. Im ersten Teil betraten drei Männer einen dunklen, schmutzigen Raum und versuchten ihn zu säubern. Duschen gaben einen Hinweis, um was es sich handelt. Sie stießen auf Haare, fielen in Wasser, fanden ein kleines Kind, Éva, versteckt vor den Nazis. Im zweiten Teil ist diese Éva Großmutter und immer noch schwer traumatisiert. In einer Wohnung in Budapest redet sie mit ihrer Tochter Léna über Identität. Wer sind wir, wer dürfen wir sein, wer wollen wir sein? Sie streiten und versöhnen sich, wir erleben wie das Trauma von der Mutter auf die Tochter übergegangen ist. Die Szene endet mit einem gewaltigen Wassereinbruch. Im dritten Teil erleben wir Jonas, Lénas Sohn, szenisch kaum angerissen. Er lebt mit seiner Mutter in Berlin, wird in Whats-App-Gruppen gedisst, wegen seiner Sprachbeherrschung, wohl auch wegen seiner Herkunft, kämpft um Hoffnung, alles kulminiert in einer gewaltigen Lichtinstallation. Ligetis Musik wird im ersten Teil durchmusiziert, dient im zweiten Teil für Effekte und Zuspitzungen, ist im dritten Teil Material für einen durchgängigen Soundtrack.
Eine herausragende Theaterarbeit. Wie kann daraus ein Film werden? 2020 hatten Mundruczó und seine Hauptdarstellerin Vanessa Kirby großen Erfolg mit der Netflix-Produktion „Pieces of a Woman“, ebenfalls auf ein Buch von Kata Wèber. In der Folge konnte er aus „Evolution“ einen Film machen, der 2021 beim Festival in Cannes sogar im Wettbewerb lief. Wieder konnte Martin Scorsese als Executive Producer gewonnen werden.
Der Film
Eine der größten Veränderungen: Ligetis „Requiem“ kommt nicht vor. Das strukturgebende Element, der Auslöser, der Ideenspender war offensichtlich „nur“ ein Katalysator. Die Musik von Dascha Dauenhauer ist gut gemacht und sensibel platziert, letztlich aber konventionelle Filmmusik. Dennoch haut der Film einen um. Die drei Männer im Raum mit den Duschen und Haaren werden Menschen durch Großaufnahmen und Atemgeräusche in einer Form, die die Bühne nicht leisten kann. Dort sahen wir 2019 ein symbolistisches Rätsel als Ouvertüre für ein Drama der Traumatisierung, hier sehen wir drei Männer, die versuchen, ihres Entsetzens Herr zu werden. Dass sie unerwartet ein Kind finden, ist mindestens genauso eine Erlösung für sie wie für das Baby. Sie tragen es hinaus. Wir sehen Auschwitz, gerade befreit von sachlich zugewandten Russen. Was vielleicht in mehrfacher Hinsicht doch ein wenig (zu) viel Klarheit ist.
Mutter und Tochter © Yorick Le Saux/Match Factory Productions/Proton Cinema
Der zweite Teil läuft nahezu identisch in Film und Bühne, obwohl er im Kino weniger Zeit in Anspruch zu nehmen scheint. Hier wie dort spielen Lili Monori (Èva) und Annamária Láng (Léna). Und sie machen das großartig. Im Kino sind wir allerdings unmittelbarer dabei. Wir sehen nicht distanziert durchs Brennglas wie im Theater und nähren den Horror in unserem Kopf durch Reflexion der Geschehnisse, wir sitzen mit am Tisch, erleben etwa die Inkontinenz der Mutter aus nächster Nähe. Ein weiterer Schock. „Evolution“ ist auch, vielleicht sogar vor allem, ein beängstigend lebensnaher Horrorfilm. Was auch für die sich anschließende Wasserkatastrophe gilt.
Der dritte Teil schließlich ist komplett neu gedacht. Er spielt in Berlin. Man spricht deutsch, nicht ungarisch mit Untertiteln wie im zweiten Teil. Und Jonas spricht akzentfrei. Er ist Ressentiments und Übergriffen seiner Mitschüler ausgesetzt, für die er seine Mutter verantwortlich macht, die verzweifelt versucht, ihre jüdische Identität zu behaupten – um sich dem Familientrauma zu stellen. In diesem Teil bekommt Deutschland bei Mundruczó und Wéber sein Fett weg.
Es gibt, hervorragend gespielte, furchtbare Nebenfiguren wie den, vorsichtig gesprochen, unsensiblen Liebhaber (Bernd Grawert) und eine krampfhaft opportunistische Lehrerin mit Gutmenschen-Attitüde (Jule Böwe). Und es gibt einen Sankt-Martins-Zug, den man kaum aushalten kann: Junge Menschen unterschiedlichen Alters mit leeren Gesichtern trotten unbeteiligt singend hinter einem Pferd her, auf dem ein roter Mantel sitzt. Das Ende ist dann, ähnlich dem Apfelbaumfinale in „Pieces of Woman“, ein utopischer Moment, der das Sentimentale mehr als nur streift. Der Junge jüdischer Abstammung, der kein „Jude“ sein will und das Mädchen, das eine Muslima ist aber nicht wie eine Muslima leben möchte (Goya Rego und Padmé Hamdemir liefern tolle Talentproben ab), tauschen an einem lauschigen Bootsanleger erste, endlose Küsse. Vielleicht kann man Wébers und Mundruczós Welt nur so aushalten.
Mutter und Sohn © Yorick Le Saux/Match Factory Productions/Proton Cinema
Postscriptum: GEHEN SIE INS KINO! Ich weiß, wir sind ein Theatermagazin und das Theater wünscht sich dringend wieder mehr Publikum, aber auch im Kinobusiness gibt es gigantische Wegbrüche, viele kleine Kinos stehen vor dem Aus. „Evolution“ ist über weite Strecken beeindruckend intensiv und unprätentiös gefilmt und bietet vieles, was hier noch nicht erzählt wurde. Und es gibt viel anderes Sehenswertes diesseits von Marvel, das sich zurzeit kaum jemand im Kino anschaut, weil alle sich an ihre Streaming-Sessel gewöhnt haben, wo es bequem ist und man jederzeit aufstehen kann, wenn man irgendein Bedürfnis hat. Ist das kulturelle Gemeinschaftserlebnis wirklich vom Tode bedroht? Ist es kein Wert mehr, sich gemeinsam etwas auszusetzen, um Anregungen zu finden und Austausch zu beginnen? Ich saß gestern Abend zu zweit ganz allein in einer Kölner Kinovorstellung. GEHEN SIE INS KINO! In Köln und anderswo. Bitte.
„Evolution“ von Kornél Mundruczó und Kata Wéber wurde von Port-au-Prince in Berlin produziert und ist seit gestern, 25. August, in ausgewählten Kinos zu sehen. Einen Trailer gibt es HIER.