Im Zentrum geht es dem Regisseur und Textkompilierer Frank Castorf in dieser jüngsten Inszenierung am Schauspiel Köln um das Verhältnis von Macht und Kunst und um das Ende der menschlichen oder kreativen Kräfte. Autobiografische Anspielungen des 70-jährigen Theatermachers spielen mit herein, wie schon in der Textvorlage, dem Molière-Roman Michail Bulgakows: Das Buch ist eine Monografie des Theaterleiters, Schauspielers und Autors im Frankreich des Sonnenkönigs, das Bulgakow mit seinem eigenen Schicksal als Künstler in der stalinistischen Sowjetunion andeutungsweise verbindet.
Ähnlich wie Bulgakow in diesem Roman verknüpft der Regisseur Castorf schon seit einigen Jahren historische Zeiten auf der Bühne miteinander, stellt eigenwillige Querverbindungen her, die bei genauerer Betrachtung die Epochen gegenseitig erhellen. Vielleicht den Höhepunkt dieses dramaturgisch komplexen Assoziationstheaters stellt die Inszenierung von oder um Goethes „Faust“ aus dem Jahr 2017 dar. Um Goethes Gretchen-Drama herum sind da deutsch-französische und französisch-algerische Beziehungen eingewebt.
„Ich bin nicht auf der Flucht wie die Romantiker“, sagt Castorf auf die Rolle des Historischen in seinem Theater angesprochen. Wir treffen uns im Dezember, einen Monat vor der Premiere, im Kantinencafé des Schauspiels Köln – er trinkt in den anderthalb Stunden entspannt drei doppelte Espressi. „Es ist eine Binsenweisheit, aber wenn man sich für die Zukunft interessiert, sollte man wissen, woher man kommt. Durch die Überflutung von Jetzt-Nachrichten wird die Gegenwart, wenn es die denn gibt, völlig überbewertet. Und insofern ist Erinnern wichtig.“
Die Geschichte von Castorfs Inszenierungen
Ohne persönliches Erleben und also nur mit überlieferter Erinnerung der Inszenierungen Castorfs in der DDR, zwischen 1978 und 1988, lassen sich meiner Ansicht nach im Wesentlichen drei Phasen seiner Theaterarbeit erkennen. Zunächst die respektlosen, anarchistischen Inszenierungen, oft Dekonstruktionen klassischer Stücke wie „Nora“ (Anklam), „Hamlet“ (Köln), „Miss Sara Sampson“ (München) oder „Wilhelm Tell“ (Basel), eine Art Verbindung von Popkultur mit Brechts Theater der Verfremdung. Die darin angelegte Provokation des Publikums war keine Spielerei, sondern Ausdruck einer harschen künstlerischen Gesellschaftskritik – in Ost wie West. Diese Phase reicht bis in die 1990er-Jahre, die ersten Jahre an der Volksbühne. Es folgten zweitens die „klassischen“ Inszenierungen der späten 1990er-Jahre und der Nullerjahre. Zunehmend inszenierte Castorf Romane (von „Clockwork Orange“ bis zu den großen Dostojewski-Werken wie „Erniedrigte und Beleidigte“ und „Der Idiot“). Neue Dramatik inszeniert Castorf von jeher kaum, Ausnahmen sind vor allem Heiner Müller (von dem einige Jahre lang zuverlässig auch in jeder Romanbearbeitung ein kurzer Beitrag eingeschmuggelt war) und Elfriede Jelinek. Castorf bearbeitete die epischen Textvorlagen stark, versuchte keine Nacherzählung der Werke, sondern nutzte Motive und Figuren für immer noch aktuelle, hochenergetische Bühnenséancen, die Performance und Dramatik eigenwillig mischten. Nun begann Castorf auch – in der Zeit der TV-Revolution „Big Brother“ – mit Livevideo auf der Bühne zu operieren. In „Der Idiot“ von 2002 war nur noch ein Bruchteil des Spiels direkt für das Publikum zu sehen, zentrale Szenen fanden hinter den Bühnenwänden statt oder wurden durch Bühnenteile verdeckt. Auch inspiriert durch seine Bayreuther „Ring“-Inszenierung von 2013 entwickelte sich dann die vorerst dritte Phase, in der er – besonders gelungen in der „Faust“-Inszenierung von 2017, aber auch schon 2013 in „Reise ans Ende der Nacht“ – historische Querverweise zu komplexen Werken komponierte.
Frank Castorf beim Fotoshooting in Köln © Tobias Kruse / Ostkreuz
Die Verbindung mit den Akteuren
Castorfs Theater ist also durchaus akademisch ambitioniert und herausfordernd. Und tatsächlich gehört wohl immer zu Castorf-Inszenierungen – nicht nur wegen der regelmäßigen Überlänge von leicht sechs Stunden – ein deutlicher Schwund des Publikums. „Ich habe immer Sachen gemacht, die mir gefallen und den Leuten in der Produktion.“ Dabei ist es eine – vielleicht auch die große – Qualität von Castorfs Theater, dass sich Text und Raum und Schauspieler sehr sinnlich und körperlich zu einem Ganzen verbinden.
Noch neun Tage vor der Premiere, als ich Gelegenheit hatte, eine Probe von „Molière“ in Köln zu besuchen, ist der Text teilweise unsicher; vieles wirkt improvisiert, so sucht Lola Klamroth noch die Melodie für ein Lied. Die Stimmung ist einerseits konzentriert und zuversichtlich, droht aber auch zu kippen; der Regisseur ist „unleidlich“, wie der erfahrene Protagonist feststellt. Die jüngeren Kolleginnen und Kollegen setzen sich immer wieder um Castorf, der in der zweiten Reihe alleine sitzt und doch Zentrum der Probe ist: Etwa zehn Menschen sitzen schräg hinter ihm und – gleichsam in einer weiteren Umlaufbahn – Techniker oder Kameraleute bewegen sich im weitläufigen Depot des Schauspiels. Wie ein Theaterkönig gibt er mit leiser, leicht näselnder Stimme, mit seiner unübersehbaren Erfahrung und einem Glas Weißwein das Tempo vor, einschließlich einiger Pausen.
Festzurren will er nichts, lieber „erst mal gucken“. Bei der final geprobten Szene heißt es dann: „Erst mal durchstoppeln. Wir machen es morgen.“ Hier klappt dann zur Freude Castorfs vieles; „schön“ oder „sehr schön“ ist an dem Tag sein bevorzugtes Lob. Unter vollem Einsatz des Souffleurs und nach einer kurzen Unterbrechung wegen des Lichts für die Kamera wird eine lange Szene durchgespielt, hier scheint sich ein Gefühl für die Situation zu entwickeln. Die im Urteil Castorfs weniger befriedigende Szene zu Beginn der Probe ist übrigens bei der Premiere wesentlich gelungener, hat nun Struktur, die Darsteller wirken so, als wüssten sie, was zu tun ist. Sie erreichen zielgerichtete Posen oder Textbeiträge – und doch erscheint alles offen und wandelbar. In einer Mischung aus Freiheit und Unsicherheit hält Castorf, so berichten genaue Kenner seiner Arbeit, grundsätzlich die Darstellerinnen und Darsteller bis zur Premiere gleichsam wach. „Die Verwalter und Verwahrer interessieren mich nicht“, sagt Castorf über Intendanten und Kuratoren; das lässt sich aber auch auf seine Einstellung gegenüber den darstellenden Bühnenkräften übertragen.
Frank Castorf beim Fotoshooting in Köln © Tobias Kruse / Ostkreuz
Royalistische Teamarbeit
Die Castorf’sche Art der Teamarbeit bezieht sich auf alle Beteiligten: „Das ist das Schöne am Theater: Es ist nicht nur die Kopfgeburt von Dramaturgen, Intendanten, Assistenten und Bühnen- und Kostümbildnern. Es ist ein viel komplexerer Mechanismus. Dass alle an einem Produkt arbeiten. Das hat natürlich was Royalistisches, dass alle zusammengehören“, sagt er, und: „Ich habe immer versucht, freundliche Verhältnisse in der Arbeit zu schaffen.“ Andererseits: Beim Rückblick auf die ersten Jahre an der Volksbühne und den Abschied des damaligen Chefdramaturgen Matthias Lilienthal benutzt Castorf das Bild einer – patriarchalen – Familie und beschreibt seine eigene Rolle dabei mit ironischer Selbstkritik: „Es war wie eine Familie: Vater ist Kapitän und fährt durch die Weltmeere. Dann kommt er nach Hause und muss in der Woche, in der er zu Hause ist, erst mal alles anders machen. Ist nicht ganz einfach mit Vater und Kapitän.“
Beim Blick auf die oben genannten drei Phasen in Castorfs Regiegeschichte fällt auf, dass jede Epoche durch einen Bühnenbildner geprägt ist. Aleskandar Deni´cs oft auf Drehbühnen gestellte Mikrokosmen, die diverse Spielfelder mit Verweisen auf berühmte Orte und verschiedene Zeitebenen andeuten, harmonieren ideal mit der assoziativen Dramaturgie Castorfs, die durch die Mischung von Verbindung und Verfremdung ungemein vielschichtig sind. Bei der von mir besuchten Probe wuselt auch Denic´ durch den Raum, bespricht hier und da mit Mitarbeitern des Theaters Dinge; große konzeptionelle Vorgespräche mit Castorf scheint es nicht zu geben. Der Regisseur reagiert vielmehr auf den Vorschlag des Bühnenbauers mit seiner Inszenierung. Großes Vertrauen in die andere Seite anstelle ausführlicher Besprechungen aller Details prägt die Zusammenarbeit. Auch die Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki (siehe das Porträt ab Seite 50) und der Musiker William Minke sind regelmäßige Mitarbeiter.
Sie ziehen mit ihm auf seiner „Wanderschaft“ nach Wien, Hamburg oder Köln. Zur rheinischen Stadt, wo er 1989 „Hamlet“ inszenierte und in den letzten Jahren dreimal arbeitete, ist sein Verhältnis freundlich ambivalent: „Ich mag es, in einer Stadt wie Köln zu sein. Wo klar ist: Die besten Zeiten liegen hinter uns.“ Auf der Bühne hat Castorf es bis heute meist geschafft, aus dieser ironischen Distanz zur Welt engagierte Theaterkunst zu machen.
Frank Castorf beim Fotoshooting in Köln © Tobias Kruse / Ostkreuz
Prägende DDR
Was mich im Gespräch mit Frank Castorf überrascht: Trotz ausgedehnter Gastspielreisen in aller Welt, Inszenierungen in Frankreich, Serbien oder Brasilien, bleibt er ein Kind des Theatersystems im gescheiterten Arbeiter-und-Bauern-Staat. „Das ist eine böse Schule, aber eine Lebensschule“, sagt er im Hinblick auf die staatlichen Behinderungen seiner Regiearbeit in Anklam. Als der Hauptdarsteller von „Trommeln in der Nacht“ aus politischen Gründen ins Gefängnis gekommen sei, habe er eben rasch umbesetzt, um den Premierentermin zu halten, bevor die Inszenierung verboten werden konnte. „Ich wusste, wenn ich zu selbstverliebt bin, um die besten Bedingungen zu erwarten, dann ist es aus.“
Bei aller Distanz zu den Menschen in der DDR – „Ressentiments gab es gegen alles, was anders war: gegen Juden, Schwarze, Polen“ – schätzte er am Theater dort, dass „viele Schauspieler aus anderen Verhältnissen kamen, ich auch. Viele sind dann geblieben und haben durch ihre Sozialerfahrung eine neue Note eingebracht. Heute haben wir die Kinder der Kinder, die alle dasselbe machen. Die können nur einen Beruf haben: Schauspielerin und Schauspieler“. Wie er selbst musste jeder Abiturient zunächst eine Lehre machen. Castorf, Sohn eines Eisenwarenhändlers aus Berlin- Prenzlauer Berg erhielt eine Ausbildung zum „Facharbeiter für Verkehrswesen“ bei der Deutschen Reichsbahn. Danach studierte er zunächst Theaterwissenschaft und begann als Dramaturg und schließlich als Regisseur, Theaterereignisse auf die Schiene zu setzen. Einen Kfz-Führerschein hat Castorf übrigens nie gemacht.
Derzeit vermisst Castorf bei vielen Theaterleuten den passionierten Kampf ums Theater, auch an der Berliner Volksbühne. Die Selbstüberforderung als Programm seiner Theaterarbeit hat „einen einfachen politischen Ansatz: Wenn ich mich in Anklam so wichtig genommen hätte, wären wir nicht weitergekommen“. Und nun im pandemisch reduzierten Theater gilt für ihn: „Die Passion, die Leidenschaft ist nicht mehr wirklich da. Entweder wir werden besonders, oder wir werden untergehen. Wir müssen kämpfen, was einsetzen.“