Die Volksbühne nach einem heftigen Märzgewitter

Anti-Theater-Theater?

Alle Hoffnung liegt auf René Pollesch als neuem Volksbühnen-Intendanten: Es wird ein schwieriger Aufbruch zwischen (N)Ostalgie und junger Berliner Internationalität

aus Heft 09/2021 zum Schwerpunkt »Saisonvorschau«

Alle Hoffnung liegt auf René Pollesch als neuem Volksbühnen-Intendanten: Es wird ein schwieriger Aufbruch
zwischen (N)Ostalgie und junger Berliner Internationalität

Stumm blieb die Sphinx vom Prenzlauer Berg bis kurz vorm ersten Tag. Während überall im Theaterland Pläne gewälzt und veröffentlicht wurden für den „Neustart“ nach so vielen Ewigkeiten pandemiebedingter Schließung, hielt ausgerechnet das Team um den erfolgsgewohnten Regisseur und Autor René Pollesch die Füße ganz ruhig. Wenig von dessen Ideen für die womöglich heißeste Theater-Immobilie zurzeit wurde publik. Und manches der Informationskrümelchen stimmte obendrein nicht wirklich zuversichtlich: Die Unklarheit etwa darüber, ob das norwegische Theater-Team um Ida Müller und Vegard Vinge Teil von Polleschs Startup-Paket werden würde. Derweil zettelte der werdende Intendant, dem Florentina Holzinger und Kornel Mundruczo, Kathrin Angerer und Martin Wuttke als Direktorium leitend zur Seite stehen, eine eher fruchtlose Debatte über die Zukunft des widerständigen Embros-Theaters in Athen an. ­Gehört auch dieses Haus zu den Partner-Gruppen, auf die der neue Volksbühnenchef setzt? Richtig schlau wurde niemand.

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Die absichtsvolle Undurchschaubarkeit mag Strategie gewesen sein – ob damit aber genügend Neugier gestiftet werden kann nach der dramatischen Zeit von langer Schließung und sehr wenig Präsenz? Die vergangenen vier Jahre seit der Nicht-Verlängerung des Intendanten Frank Castorf bei dessen Eintritt ins Rentenalter waren teils so spektakulär missraten und teils von derart divergierenden Zielvorstellungen geprägt, dass derzeit niemand guten Gewissens sagen kann, was die Volksbühne eigentlich ist, wer sie wirklich haben will und wofür sie in Zukunft stehen kann. Gerade darum ist es so wichtig, was René Pollesch wirklich anstellt mit diesem Theater – jenseits weiterhin intensiver Arbeit auswärts, etwa am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg… Dort nämlich steht die nächste Pollesch-Premiere schon fest.

Die ersten Monate nach Castorfs erzwungenem Abschied hatten 2017 genügt, um rund um das traditionsreiche Theater-Schlachtschiff im Osten Berlins ein Trümmerfeld entstehen zu lassen – infolge der Schnapsidee vom inzwischen ziemlich vergessenen „Kulturpolitiker“ Tim Renner, den belgischen Museumsmann Chris Dercon auf Castorfs Platz zu berufen. Niemand aus der alten Truppe wollte bei ihm arbeiten, obwohl sich „der Neue“ durchaus bemühte etwa um Herbert Fritsch oder auch René Pollesch. Der Widerstand gegen Dercon (der von Theater erklärtermaßen wenig bis nichts verstand) schlug gewaltige Wellen: mit Dreck-und Ekel-Päckchen vor der Tür zur Intendanz, mit ziemlich viel Hass in den asozialen Medien, mit der gelungenen Plakat- und Klebchen-Kampagne „Tschüss Chris!“. Die Strateginnen und Strategen des Hauses hatten dem Lärm nicht viel mehr entgegenzusetzen als die konsequent verrätselten Theater-Projekte der Regisseurin Susanne Kennedy. Zeitweilig waren zumindest die Foyers des Hauses besetzt – von Aktivistinnen und Aktivisten, die die Funktion von Stadt- und Staatstheatern grundsätzlich in Frage stellten. Und so im Grunde (und trotz vieler Unvereinbarkeiten) anknüpften bei Castorf – auch der hatte das Theater, das er offiziell leitete, als Anti-Theater-Theater positioniert.

Als Dercon schließlich zum Aufgeben gedrängt wurde, kein Jahr nach dem Start, wurde die Lage noch unübersichtlicher – immerhin stand nun mitten in Berlin ein funktionstüchtiges Theater mit Hunderten hochqualifizierter Mitarbeiter ungenutzt herum. Das Abenteuer ging weiter: Klaus Dörr wurde zum Interimsintendanten berufen, als Organisationschef bewährt an der Seite des Intendanten Armin Petras, erst in dessen Berliner Zeit am Maxim-Gorki Theater und danach am Stuttgarter Schauspiel. Mitten im Abschiednehmen dort kreierte er einen ziemlich erstaunlichen Plan für die Volksbühne, der Jahre zuvor schon mal bestens funktioniert hatte, als in Bochum dem neuen Intendanten Elmar Goerden kurz vor dem Saisonstart der Fundus abbrannte. Um das Haus wieder wahrnehmbar werden zu lassen in Berlin, wurden reihenweise Produktionen von auswärts eingeladen, damals nach Bochum, jetzt nach Berlin: aus Dortmund etwa, wo der medien-affine Regisseur Kay Voges Furore machte, aus Stuttgart oder aus Hannover, wo in dieser Zeit herausragende Arbeiten des isländischen Theater-Mystikers Thorleifur Örn Arnarsson entstanden. Der wurde dann auch Schauspiel-Direktor, als die alte Volksbühne ein neues Ensemble bekam vor gut zwei Jahren; neben Arnarsson inszenierten Claudia Bauer und Alexander Eisenach, noch in der Pandemie – während für die Zeit nach Interims-Intendant Klaus Dörr auch schon mit René Pollesch verhandelt wurde. Mit Mitteln und Ästhetik des Stadttheaters war ausgerechnet die Volksbühne gerettet worden.

Aber war damit und ist mit ihm jetzt alles gut? Sicher nicht. Die Wandlungen, die das Haus hat durchmachen müssen, haben Spuren hinterlassen, unüberseh- und unüberhörbar – etwa im Kassenfoyer. Kaum irgendwo sonst in Berlin klingen die Stimmen derart international durcheinander; die Bühne ist in den besten Momenten zur Plattform der extrem multikulturell durchmischten Hauptstadt geworden, weit über die Stammkundschaft der Castorf-Zeit hinaus. Ob nun gerade diese auch Pollesch treu begleiten wird, deutlich älter geworden, wie sie nun mal ist, und immer noch deutlich fixiert auf die Ost-gegen-West-Widerständigkeit aus 25 Jahren Nachwendezeit? Wer weiß. Selbst wenn im Intendanz-Büro nun Reckinnen und Recken von früher wieder mitreden, Sophie Rois etwa, Martin Wuttke oder Kathrin Angerer: Wie bis vor vier Jahren gehabt wird es nicht weiter gehen können.

Im Grunde dramatischer als irgendwo sonst wird René Pollesch die Volksbühne „neu erfinden“ müssen; und die Gemeinde von früher mit den erreichbaren Generationen heute vermischen. Dafür sind Ideen nötig, die wirklich überraschen und Neugier stiften im Niemandsland – so gesehen war das lange Schweigen vor dem Start womöglich nützlich, wenn es denn diese Neugier gesteigert hat. Ein komplettes Jahresprogramm, so war mittlerweile zu hören, werde es wohl nicht geben im ersten Pollesch-Jahr. Das Team des Intendanten will auf Sicht fahren und möglichst zeitnah produzieren. Das birgt beträchtliche Risiken, gerade im Umgang mit einem Bühnenbetrieb, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit großem Selbstbewusstsein agieren – auch weil sie vier extrem dramatische Jahre mit geradem Rückgrat überstanden haben. Auch Dörrs Zeit an der Volksbühne endete nach Sexismus-Vorwürfen gegen den Intendanten vorzeitig. Wenn derzeit überhaupt jemand die Volksbühne repräsentiert, dann sind das die Teams hinter den Kulissen.

Einer ist derweil wirklich fein raus: Frank Castorf, mit dessen Rausschmiss alles begann. Er inszeniert regelmäßig nebenan am „Berliner Ensemble“, hat treue Schauspielerinnen und Schauspieler dorthin oder nach Hamburg, Köln und Wien mitgenommen. 70 ist er gerade geworden, und um ihn muss sich niemand sorgen. Bei seinem alten Theater ist das nicht so sicher.