Klar, wer und was damit gemeint ist. Aber Martin Schläpfer war schon nicht mehr Direktor, als das Ballett am Rhein in das neue Balletthaus einzog; als Chefchoreograph richtete er sein Augenmerk ausschließlich auf seine künstlerischen Aufgaben, während sich Remus ¸Suchean˘a um die Leitung kümmerte. Der Gedanke daran erleichtert seinem Nachfolger offensichtlich das Arbeiten. Doch abgesehen davon: Selbst wenn man Volpi trotz seiner 35 Jahre für einen großen Jungen halten könnte, lässt er sich von nichts und niemandem einschüchtern. „Das habe ich in Stuttgart und andernorts schnell begriffen: Erwartungen, die haben immer die anderen. Ich selber kann nur das vertreten und tun, was ich für künstlerisch wertvoll und wichtig erachte.“
Volpi kann sich auf eine Sache fokussieren. „So bin ich halt“, sagt er lachend und verweist in dem Zusammenhang auf das „compartmentalizing“, das ihn einst James Tuggle, langjähriger Musikdirektor des Stuttgarter Balletts, gelehrt hat: Man ordnet seine Gedanken in bestimmte Fächer ein. „Das ist hilfreich, weil man ein Problem erst einmal ablegen kann, bis die Zeit gekommen ist, sich damit auseinanderzusetzen.“ Volpi weiß aus schmerzlicher Erfahrung, wovon er spricht. 2017, als ihm Ballettintendant Reid Anderson den Vertrag als Hauschoreograph nicht verlängern wollte, blendete er seine Existenzsorgen erst einmal komplett aus, um sich ganz seiner Inszenierung der Britten-Oper „Tod in Venedig“ widmen zu können: eine Konzentrationsübung, die sich ausgezahlt hat. Für einige Kritiker war die Operninszenierung die Aufführung des Jahres.
In Düsseldorf/Duisburg hatte er zu Anfang ohnehin anderes zu tun, als einem wie auch immer gearteten Erwartungsdruck standzuhalten. Er hatte sich erst mal als Krisenmanager zu beweisen. Ein Ensemble wollte geformt werden. Es galt, einen Spielplan auf die Beine zu stellen. Viel Zeit war da nicht. Erst Ende Oktober 2018 hatten ihn Generalintendant Christoph Meyer und der Kulturdezernent der Stadt Düsseldorf, Hans-Georg Lohe, zu einem ersten Gespräch gebeten. Wenige Monate später folgte das Angebot, die Leitung des Rheinballetts zu übernehmen – zu einem Zeitpunkt, als Volpi gerade damit begonnen hatte, sein Dasein als Freischaffender zu genießen. Opernaufträge gab es nach „Tod in Venedig“ zur Genüge, ebenso kleinere Choreographien. Auch ein abendfüllendes Handlungsballett stand zur Debatte. Aber eine eigene Tanzcompagnie zu leiten war natürlich etwas anderes; das hatte sich Volpi immer schon gewünscht: als Zielprojekt für die Zukunft.
Dass die sich so schnell vergegenwärtigt, konnte er nicht ahnen. Ab August war Volpi als Ballettdirektor gefordert, der er zuvor ja nicht gewesen ist. „Ich bin im Februar hierhergezogen, um ein Gefühl für beide Städte zu entwickeln und die Menschen innerhalb und außerhalb des Theaters kennenzulernen. Die Kisten waren nicht ausgepackt, als ich mich plötzlich in meiner neuen Wohnung eingeschlossen fand und mit meinem Team nur per Zoom verkehren konnte. Unsere Saisonvorschau war glücklicherweise noch nicht im Druck, alle Ankündigungen wurden gestoppt, bis mir nach zwei Wochen im Lockdown klar wurde: Die Pandemie ist kein vorübergehendes Problem; wir werden auch nach ein paar Wochen nicht normal agieren können. Also gingen wir, mein Team und ich, wieder back to the drawing board, wie man so schön sagt, und entschieden uns noch im März 2020 für eine radikale Alternative, für einen Spielplan unter den denkbar schlechtesten Bedingungen.“
Das Worst-Case-Szenario durfte allerdings nicht auf Kosten der beteiligten Künstler gehen. In endlosen Nächten rief Volpi jeden einzelnen Tänzer, jede Tänzerin an, um sich deren Sorgen anzuhören und Hilfe anzubieten. Auch an den jeweiligen Produktionsteams wollte er um jeden Preis festhalten. Einiges ließ sich mit den verordneten Abstandsregeln vereinbaren, manches nicht. Da, wo ein Werk unter den neuen Bedingungen Schaden genommen hätte, wurde entweder eine andere Arbeit ausgehandelt oder das Projekt auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Nicht ohne Stolz konstatiert Volpi heute: „Wir haben keinen einzigen Vertrag gecancelt. Niemand ist abgesprungen oder uns verloren gegangen. Mir war das wichtig; schließlich war ich bis kurz zuvor selbst freischaffender Künstler. Ich finde, in dieser Position trage ich eine Verantwortung, und der will ich gerecht werden.“
Unmissverständlich auch die Losung, die er ausgegeben hatte: Stellt die Begrenzungen nicht immer wieder infrage! Lasst uns vielmehr in ihnen so kreativ wie möglich werden! Begrenzungen gibt es schließlich immer, egal, ob es sich um ein Zimmer handelt, um einen Ballettsaal, eine Bühne. Sie lassen sich nicht groß verändern. „Gehört es nicht auch zu unseren Aufgaben, eine Illusion zu schaffen, einen Raum größer erscheinen zu lassen, einen Eindruck von Fülle zu erwecken?“, fragt sich Volpi. Manchmal gelingt das. Manchmal nicht.
Demis Volpi denkt da pragmatisch, ohne sich deswegen von seinen Visionen zu verabschieden, und bringt damit sein Ensemble erst mal zum Tanzen. Unter dem Titel „A First Date“ hatte er ursprünglich eine erste Publikumsbegegnung mit dem gesamten 45-köpfigen Ensemble geplant. Als das nicht machbar war, spaltete er die Premiere in drei Episoden und präsentierte diese, jeweils anders besetzt, im Opernhaus Düsseldorf wie im Theater Duisburg, auf dass jeder Tänzer, jede Tänzerin auf ganz persönliche Weise zu einem Auftritt kam. Seine eigene Visitenkarte – die Neuinterpretation eines schon bestehenden mehrteiligen Balletts – wollte Volpi eigentlich kurz darauf abgeben. Sie wird nachgereicht, sobald das ohne Abstriche möglich ist. Stattdessen schob er „Far and near are all around“ ein, einen Doppelabend, den er sich mit Juanjo Arqués teilte. Und plant kurzfristig als Nächstes „Geschlossene Spiele“ nach dem Einakter „Nichts mehr nach Calingasta“ seines Landsmannes Julio Cortázar. 1983 beim Steirischen Herbst uraufgeführt, scheint ihm das Werk passend für unsere Krisenzeit. Schließlich geht es dort auch darum, ob ein Mensch über das Schicksal eines anderen entscheiden kann, womöglich
sogar soll.
Die Stoffwahl ist kein Zufall. Demis Volpi ist Argentinier, selbst wenn man ihm das nicht auf Anhieb anmerkt. Sein Deutsch ist makellos, sein Spanisch und sein Englisch wahrscheinlich ebenso. 1985 in Buenos Aires geboren, besuchte er noch in seiner Heimat eine deutsche Schule, bevor er sich an Canada’s National Ballet School und später in Stuttgart zum Tänzer ausbilden ließ. Als solcher war Volpi durchaus auffallend im Stuttgarter Ensemble, wenngleich er sich mehr und mehr als ein Choreograph entpuppte, den Erzählungen faszinieren. Sie bewegen ihn, „wortwörtlich“, wie er in der nunmehr gedruckten Saisonvorschau schreibt – und das merkt man selbst dem „Karneval der Tiere“ an, den er 2010 im Auftrag der Cranko-Schule in einen fulminanten Bilderreigen verwandelte. Und es war nicht anders beim gefeierten „Krabat“ drei Jahre später, einem abendfüllenden Ballett, von dem das Stuttgarter Publikum nicht mehr lassen wollte: ein Bühnenmirakel, machtvoll und magisch zugleich.
Wichtige Aufführungen sind hinzugekommen, weltweit und genreübergreifend – darunter Mozarts „Don Giovanni“ für das Nationaltheater Weimar, einen „Nussknacker“ für das Ballet Vlaanderen, „Rey y Rey“ in Mexiko-Stadt oder ein vielschichtiges Opernprojekt wie „Médée/Medea Senecae“ für Saarbrücken. Man hat den Eindruck, als ob sein Tatendrang nicht zu bremsen ist – es sei denn durch einen Türstopper, wie er sich in seinem Düsseldorfer Domizil wiederfindet: ein Hündchen, dessen Augen ihn an seine eigene Geschichte und an eine berühmte Ballerina erinnern. Demis Volpi nennt ihn
Márcia und schmunzelt.