Eine maskierte Gesellschaft, geschlossene Schulen und leergefegte Innenstädte wären vor wenigen Jahren noch genauso ein irreales Horrorszenario gewesen wie ein drohender Bürgerkrieg in den USA. Die Theater, solange sie denn spielen konnten, reagierten in ihren Programmen durchaus auf diese Entwicklung. Fünf „Frankenstein“-Variationen stehen auf den Spielplänen der Saison, jede Menge Gesellschaftsdystopien von der Antike bis in die Gegenwart oder Zukunft. In den letzten Jahren hat der junge Regisseur und Bühnenbildner Ersan Mondtag dem Bühnenschrecken starke neue Impulse verschafft, vor allem durch die Verarbeitung optischer Einflüsse aus dem Film. Für diesen Schwerpunkt haben wir ihn um Kommentare zu gruseligen Szenenbildern seiner Inszenierungen gebeten. Und die unterstreichen, dass es ihm keineswegs nur um optische Reize geht, sondern vielmehr um urmenschliche Ängste und zwischenmenschliche Abgründe.
Dennoch stellt sich die Frage, ob das Theater Schrecken, Grauen, Horror äußerlich abbilden kann und soll. Unser bürgerlich geprägtes Theater tut sich unter dem Einfluss des Klassizismus (von Lessing und Goethe) mit einfachen Schockeffekten schwer, dämpfte eher ungefilterte Emotionen durch Stil, Geschmack und aufgeklärte Vernunft. Auch das vermeintlich antibürgerliche Regietheater aus den 1920er- und dann den 1960er-Jahren suchte intellektuell vermittelte Ansprache mehr als direkte emotionale Berührung. Schockeffekte für Abonnenten in Form von Nacktheit oder Blutorgien waren in den letzten Jahrzehnten nicht unbedingt Ausdruck einer impulsiven Expressivität, sondern vielmehr Teil eines dramaturgischen Konzepts. Theaterleute dieser Epoche trugen in der Regel Einheitsschwarz, auch als Ausdruck einer spaßfreien Ernsthaftigkeit. Allerdings besteht in einer intellektuell bestimmten Schockkultur auf Dauer die Gefahr, dass der Grusel äußerlich und damit harmlos wird.
Horror in der Kunstgeschichte
In einer immer fragileren Welt scheint gegenwärtig rund um den Globus eine neue Stufe für das Gruselige erreicht, als angemessene und realistische Form der Reflexion von Irrsinn, Egoismus, nerviger Pandemie und Umweltzerstörung. Diese aktuelle Situation nutzt unsere Autorin Oranus Mahmoodi als Ausgangspunkt für eine Abhandlung zum Horror in der Kunstgeschichte. Sie verweist auf Gruselfilme der 1920er-Jahre, die, weniger besorgt ums poetische Niveau als das Theater, auf Angst und Schrecken der Zuschauer setzten und dabei eng mit gesellschaftlichen Spannungen verbunden waren.
Orestie des 21. Jahrhunderts
Angst, Furcht, Schrecken, Horror stehen allerdings seit Anfang der europäischen Theatergeschichte im Zentrum des Theaters: mit Katharsis nach Eleos und Phobos in der Tragödientheorie des Aristoteles und mit Mord und Totschlag auf der Bühne. Mein Artikel konzentriert sich auf die „Orestie“ des Aischylos in einer Neuinszenierung an der Volksbühne und in einer „Orestie des 21. Jahrhunderts“ von Rainald Goetz. Grusel auf der Bühne dient nicht nur dazu, die Welt angemessen zu beschreiben, vielmehr steckt dahinter (in der Tradition der aristotelischen Katharsis) die Hoffnung, somit die Welt auch besser bewältigen zu können. Der Dreiklang des Chores im „Agamemnon“ des Aischylos fasst die tragische Dialektik so zusammen: „Tun, Leiden, Lernen.“ Nur wer Schrecken erfährt – und erkennt, wer dafür verantwortlich ist –, kann helfen, die Welt zu verbessern. Insofern kann ein Theater des Schreckens immer auch eines der Hoffnung sein.
Beispiele für ein Theater des Schreckens
In dem Schwerpunkt wollen wir noch weitere aktuelle Beispiele für ein Theater des Schreckens beschreiben, etwa in Nikolaus Habjans Teilverpuppung im Horrorszenario „Der Leichenverbrenner“, das im faschistisch besetzten Tschechien spielt. Zudem kommt Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer zu Wort, der gerade in Verbindung mit gesellschaftlichem Engagement gegen den Faschismus unbedingt ein Anhänger des Schreckens auf der Bühne ist.
Hoffnung auf Katharsis
Hat ein Theater des Schreckens auch im Kinder- und Jugendtheater seinen Platz? Claus Overkamp, Intendant des Bonner Theaters Marabu, meint: Unbedingt! Allerdings laden Schrecken und Grausiges hier zur pädagogischen Auseinandersetzung auf der Bühne ein. Womit wir vielleicht noch einmal bei der Hoffnung auf Katharsis wären.
Im Theater treten wir der Welt gespiegelt entgegen. Das geht, ernsthaft betrieben, nicht ohne Schrecken. Doch trans-formiert er sich zwischen Bühne und Publikum. Schrecken auf der Bühne muss sich nicht 1:1 aufs Publikum übertragen. Vielmehr können verrutschte, dekonstruierte optimistische Töne – etwa dargeboten von Clowns – das größte Erschrecken hervorrufen. Letztlich hängt es von jedem von uns ab, was ihn erschreckt oder was ihn zu Engagement anregt.