Ein Sänger ließ sich in seiner Wohnung jeden Morgen mit dem Triumphmarsch aus „Aida“ wecken. Nach einigen Monaten fragte ihn eine andere Mieterin: „Sind Sie eigentlich der, welcher jeden Morgen diese Fußballmusik hört?“ Verdi ist raffiniert, fast hinterhältig, seine Trompeten spielen die Musik der Sieger so banal, dass sie auf jedem Platz gegrölt werden kann, im Gegensatz zu dem wunderbar einfach-komplizierten Chor der gefangenen Äthiopier. Andererseits schrammt der Gefangenenchor in „Nabucco“ mit seiner Zwölf-Achtel-Begleitung nicht nur an deutscher Gemütlichkeit um Haaresbreite vorbei. In Gelsenkirchen sah ich die Aufführung dieser Oper aus der letzten Reihe. Ich traute meinen Augen nicht, aber tatsächlich schunkelte ein gesamtes Publikum unbewusst die Triolen mit. Ein Kraftwerk der verkitschten Gefühle?
Anfang der Siebzigerjahre war ich Schauspielschüler und Assistent bei der ersten Operninszenierung von Hans Neuenfels. Als auf der Probebühne in Nürnberg Dunja Vesovic die Azucena ausprobierte, ganz ungeschützt und unpathetisch, musste ich spontan hemmungslos weinen, ein sehr irritierendes Erlebnis, von heute aus gesehen auch irritierend erotisch. Weinen musste ich noch oft auf Proben in den vierzig Jahren danach, zuletzt über die zärtlich beteiligte Weise, wie Linda Watson als Brünnhilde die Fotografien von Wotan betrachtet hat in der Szene mit Waltraute. War das Kitsch? Oder war das Sensibilisierung im Sinne einer Erweiterung von Brechts Diktum „Gegenstand der Untersuchung ist der Mensch“?
Ich finde den Begriff „Kitsch“ gut definiert mit „Rührung ohne Grund“. Ich sage auf Proben oft: Bitte keine allgemeinen Emotionen, bitte kein „irgendwie Gefühltes“. So etwas passiert besonders schnell, wenn Musik mit im Spiel ist. Fritz Kortner (auch so ein Vorbild) hatte einmal nach dem Besuch einer Komödie die Aufführung in Bausch und Bogen verrissen. Jemand sagte: „Aber die Leute haben doch Tränen gelacht.“ – „Ja“, sagte Kortner „aber unter ihrem Niveau.“ Ich kenne niemanden, der 1982 bei „E. T.“ nicht ein paar Tränchen verdrückt hat. Ich empfand das als leeren, kalkulierten Mechanismus, eben unter Niveau, wie Zuckerwatte: süß und sinnlos.
Ja, ich will im Schauspiel, im Musiktheater, im Kino berührt werden und möchte das unserem Publikum auch ermöglichen. Aber bitte nicht unter seinem Niveau. Um den Kitsch, jene „Rührung ohne Grund“ zu verhindern, spielt Handwerk eine Rolle. Albert Bassermann brachte einst einen ganzen Theatersaal zum Schluchzen, weil die Leute meinten, der alte Mann weinte. In Wirklichkeit lachte der bis an die Schmerzgrenze. Die alte Binsenweisheit: Der Zuschauer muss emotional berührt werden, nicht der Darsteller darf es sein. Beim Sänger geht das ohnehin nicht. Man kann beim Singen nicht so tun als ob. Der Sänger ist in puncto Energie, Atemfrequenz, Pulsfrequenz, Lautstärke, dem Ausfüllen des Raumes mit der dargestellten Figur kongruent, alles ist „echt“. Vermeiden wir im Probenprozess jene „allgemeine Emotionalität“, kommen wir zu einer begründeten Haltung der Figur, zu einem Gestus, dann sprechen wir zu Recht von Sängerdarstellern.
Mit diesen meinen täglichen Arbeitsplatz zu teilen ist seit Jahrzehnten meine nicht immer einfache Lebensform. Auf einer Probebühne bei, sagen wir mal, „Tristan und Isolde“ oder „Don Carlo“ mit voller Kraft angesungen zu werden bedeutet für den Regisseur stundenlanges Aufnehmen, ja, geradezu Einatmen von ganzen Gefühlswelten. Da sollte sich eigentlich niemand wundern, wenn ich nach einiger Zeit einfach mal zurückschreie. Das Publikum macht es ja auch. Im August 1976 erlebte ich als Stipendiat der Richard-Wagner-Stiftung Patrice Chéreaus „Ring“ in Bayreuth. Ich saß vier Abende lang mitten in einem Vulkan, das Geschrei der Entrüstung, aber auch der Zustimmung überdeckte oft die Musik. Es war eine unglaubliche Erfahrung.
Bei meiner ersten eigenen Opernarbeit war es dann wie ein Nackenschlag. Tatjana hatte ihren letzten Satz gesungen: „Ich will dir sagen, warum du gehen musst. Ich liebe dich.“ Onegin, von diesem Paradox provoziert, gab ihr eine schallende Ohrfeige und schrie: „Für mich ist alles aus!“ Es folgten die letzten schnellen Tutti-Akkorde des Orchesters, dann stürzten die Sänger direkt zum Applaus an die Rampe. Ein unerhörtes Bravogeschrei hub an. Es war, im November 1981, meine zwölfte Inszenierung und meine erste Oper, und ich fühlte mich als Sieger. Doch als ich selbst auf die Bühne trat, war das empörte Gebrüll eines gesamten Zuschauerraumes so total, dass ich für einen Moment ohnmächtig wurde. Das war meine erste persönliche Erfahrung mit dem „Kraftwerk der Gefühle“ des Publikums. Ich empfand es als undifferenziert, abstoßend, erschreckend, eigentlich unbeschreiblich, aber ganz ehrlich: Es war richtig geil.
Natürlich gibt es auch im Schauspiel sehr laute Zustimmung oder Ablehnung, aber was sind das für Lüftchen gegen den Sturm bei vielen Aufführungen im Musiktheater. Was geht da ab? Geht es nur um die Sänger, den Dirigenten, den Regisseur, um eingehaltene Versprechen und unerfüllte Erwartungen, gar um Konsumverhalten? Oder gibt es da vielleicht doch eine Prägung, eine Zäsur, ein Umdenken, ein Neu-Fühlen, etwas, das auch nur im Entferntesten mit der aristotelischen Forderung nach einer Katharsis zu tun hat?
„Gegenstand der Untersuchung ist der Mensch.“ Ein Satz, so klassisch einfach, dass er geradewegs von Aristoteles stammen könnte. Er bedeutet vor allem: Gegenstand der Untersuchung ist nicht der Kunstvorgang! Das erfährt man evident bei Monteverdi, mit dem die europäische Operngeschichte so politisch beginnt. Man erfährt es bei Mozart, diesem Choleriker mit seinem Fortissimo auf unbetonten Taktzeiten, bei Verdi, diesem grandiosen Spötter zwischen Kirche und Kino, bei Tschaikowsky mit seiner übergroßen, fast weiblichen Sympathie für die an sich selbst leidenden Personen und bei Puccini, der von außen, über die Oberfläche seine Figuren beschreibt wie sonst vielleicht nur noch Ödön von Horváth und Alban Berg, der sich so außerordentlich um Sprachlosigkeit und Sprachverlust kümmert. Man erfährt es bei Hindemith, dem unerbittlichen Erforscher von – auch musikalischer – Geschichte, wie bei Péter Eötvös, der, bei aller Nähe zur Filmmusik, in der Verknappung Substanz sucht und findet. Richard Wagner, dieser Exponent des Überrumpelungstheaters, dagegen untersucht nicht und stiftet nicht zur Untersuchung an; er weiß immer schon alles und lässt sein Orchester immer alles schon wissen.
Schon immer hatte für mich Theater, wie grundsätzlich jede Kunst, die Funktion eines „Weichmachers“, verantwortlich für das Auflösen sich verfestigender Strukturen. Für diese antiideologische Funktion ist in Athen vor zweitausendfünfhundert Jahren unsere gesellschaftlich relevante Kunstform erdacht und entwickelt worden. Hier liegt auch durchaus der Ursprung von Wagners Theaterverständnis, nur ist seine Weltanschauung, sind seine Texte derart ideologisch verfestigt, als ob sie sich gegen jede Befragung mit einem Panzer umgeben wollen. Dass Wagners Musik wie eine Droge wirkt, die ihrerseits Reflexion verhindern will, ist eine Binsenweisheit und ein wesentlicher Grund, warum ich mich lange Zeit gegen diesen Komponisten gesperrt habe, dieses Kraftwerk, das mit einer Keule durch die Welt zieht.
Kurioserweise hat mir das genaue Studium seiner Regieanweisungen einen Weg geebnet. Wagner ist ein eigenwilliger Szeniker, vor allem, was Zeitabläufe angeht. Bei der Arbeit am „Ring“ in Düsseldorf und Duisburg durften wir uns nicht durch seine Klassizität einschüchtern lassen, wollten ihn aber dennoch in seinen Eigenarten und Besonderheiten ernst nehmen. Dabei half eine Methode, die der Bühnenbildner Dieter Richter und ich öfter angewendet haben. Ausgangspunkt war Stanley Kubricks Verwendung prä-existenzieller Musik in seinen Filmen. Interessanterweise ist der primäre Reiz beim Film oft der Ton, wie in der Oper auch. Aber: Das Auge hört mit. Indem Kubrick in seine Filme Musik montierte, die emotional ganz anders aufgeladen war als die jeweilige neue Szene, wurden geradezu schockartige Emotionen provoziert. Bekanntestes Beispiel ist in „Odyssee im Weltraum“ die kreisende Space-Station mit dem „Kaiserwalzer“ von Johann Strauss. Für Kubrick übrigens keine intellektuelle Entscheidung, er wollte einfach nur „etwas, was sich dreht“. Weit auseinanderliegende Bezüge ergeben in der Kopplung eine neue Sicht, häufig sogar eine neue Erfahrung. Die Vergewaltigungsszenen in „Clockwork Orange“ werden durch die Konfrontation mit Opernmusik von Rossini nicht nur brutaler, sondern auch sarkastischer – und auf hinterhältige Weise konsumierbar. Andererseits wird Pasolinis „Accatone“, eine Vorstadt- und Zuhälterstory, durch die Musik von Bach tatsächlich zu einer Passionsgeschichte.
Wir suchen in unserer Arbeit den umgekehrten Weg. Die Liebe zu den drei Orangen wurde in den Zwanzigerjahren in Chicago uraufgeführt. Wir haben den Film „Some Like It Hot“ von Billy Wilder, der in den späten Zwanzigern spielt, versuchsweise mit Prokofjews Musik unterlegt. Das Ergebnis: Der Film wirkte noch viel komischer und die Musik frecher. Also spielten wir unsere Oper nach Gozzi wie eine realistische Komödie als Mafiakrimi in Chicago. Bei der Vorbereitung zum „Freischütz“ unterlegten wir die Szene aus „Der Untergang“, in der Corinna Harfouch als Magda Goebbels ihre Kinder vergiftet, mit der Wolfsschlucht-Sequenz. Die Musik dieser so deutschen Oper wirkte plötzlich viel weniger „romantisch“, sondern brutal und unerbittlich, und die Szene selbst wurde geradezu unerträglich. Und so entwickelten wir für die Wolfsschlucht ein entsprechend fremdes Bild.
So haben wir den Welttheatermythos, von Wagner behauptet und von seinen Exegeten immer wieder nachgeplappert, diese mit teilweise banaler Musik aufgeladene Gefühlsdampfwalze, mithilfe von George Bernard Shaws „Ring“-Untersuchung und Émile Zolas Familiensaga „Les Rougon-Macquart“ unterlaufen – und nur dadurch ertragen können. So wurde in der Düsseldorfer Aufführung der „Ring“, was er auch ist: schäbiges Vorstadttheater mit schäbigen Charakteren und grandioser Orchestrierung.
Auseinandersetzung mit dem „Kraftwerk der Gefühle“ Oper bedeutet eben oft auch eine Entscheidung dagegen. Es bedeutet aufbrechen, entmythologisieren, den politischen, historischen, gesellschaftlichen Zusammenhang untersuchen, denn natürlich wird der Gefühlshaushalt von Menschen, die Affektlage, in verschiedenen Zeiten verschieden wahrgenommen, reguliert und unterdrückt. Übrigens ist das einer der Gründe, warum wir unsere Aufführungen meistens in der Entstehungszeit des Werkes spielen lassen. Nach fünfmal Händel, siebenmal Mozart, 21-mal Verdi und siebenmal Wagner spürt man sehr genau die gesellschaftlich unterschiedlichen Bedingungen für die Komponisten und ihre „Kraftwerke“.
Unterm Strich bleibt ein Unbehagen am „Gefühl“ als einem unberechenbaren Aggregatzustand, von dem man mit Franz Josef Degenhardt sagen könnte: „Es schlägt zu, mitten im Flennen, aus Rotz und Blut ist dieser Brei!“ Ja, man muss es rauslassen, aber man muss es auch an die Kette legen. Auf Proben, besonders auf Chorproben, ruft der Inspizient oft: Ruuuhe! Das ist für mich jedes Mal ein schöner Anlass für eine kleine Belehrung. Das Theater braucht keine Ruhe! Es braucht Unruhe! Was es braucht, ist – Stille! Aus dieser Stille heraus, und mit viel Unruhe, kann die so oft verschlissene Oper immer neue Kraft gewinnen. Antonin Artaud hat gesagt: „Noch kann uns der Himmel auf den Kopf fallen, und das Theater ist zunächst einmal dazu da, uns das beizubringen.“ Auch deshalb befindet sich die über vier Jahrhunderte weiterentwickelte Kunstform Oper weltweit auf dem aufsteigenden Ast. Und zwar in den Originalsprachen Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch, Tschechisch, Polnisch, Russisch und anderen.
Warum ist das wichtig? Ich habe vor Jahren einen Text von George Bataille gefunden, der, gerade weil er so unpolitisch klingt, politische Utopie entwickeln könnte: „Kunst ist die Schöpfung einer sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit, die die Welt in Richtung einer Antwort auf die in der Substanz des menschlichen Seins verankerte Sehnsucht nach einem Wunder verändert.“