Es ist diese Begegnung von Tanzhistorie und jungen Leuten von heute, die John Neumeiers Tanz-Collage „Die Unsichtbaren“ so berührend und spannend macht. Der Hamburger Ballettchef hat, unterstützt von dem Tanzhistoriker Ralf Stabel, eingehende Recherche betrieben, um die „Unsichtbaren“, jene Tänzerinnen und Tänzer, Choreographen und Tanzjournalisten wieder sichtbar zu machen, die während des Nationalsozialismus ausgegrenzt, vertrieben, deportiert oder umgebracht wurden. Jüdische Abstammung, Homosexualität und seltener politische Unzuverlässigkeit wurden damals reklamiert, um diese Menschen aus ihrer Kunstübung und letztlich aus ihrem Leben zu reißen.
Neumeier lässt sie in historischen Originaldokumenten zu Wort kommen. Teils eingelesen, teils von Schauspielern (angemessen Maximilian von Mühlen, zu angestrengt Louisa Stroux), teils von Tänzern vertreten. So spielt Lennard Giesenberg in exzellenter Diktion den Tänzer Jean Weidt, der nach einer Warnung durch seinen Bruder nicht wieder von Bord seines Reiseschiffs geht und weiter ins Exil fährt.
Wer kennt ihn heute noch? Wer Alexander von Swaine, der als Homosexueller nach Ostindien floh, nach der Besetzung Hollands interniert wurde und später in Mexiko lebte. Als er 1990 starb, galt er noch immer als vorbestraft, die Urteile gegen Homosexuelle wurden erst 2002 aufgehoben, bis 1994 war Homosexualität in der Bundesrepublik noch immer strafbar! Dies erfährt man rund um die Interpretation des „Nachmittags eines Fauns“, den von Swaine besser als Nijinsky getanzt haben soll. Giuseppe Conte gibt die Rolle hier mit eher zarter, fast leidender Erotik, während sich der Sehnsuchtsmann Pepijn Geldermann vor ihm aufbaut.
Neumeier erfuhr, dass von Swaine seine Arbeit in Frankfurt und Hamburg verfolgt habe, bekennt im Programmheft, dass er versäumt habe, den Kontakt zu suchen, ihn zu seinem Schicksal zu befragen. Ebenso bei Erika Milee, die sich später im Freundeskreis des Hamburg-Balletts engagierte. So ist dieser Abend auch eine späte Erfüllung verpasster Chancen. Und Neumeier holt sie nach auch für uns alle und zwei Generationen Tanzschaffender, die ebenfalls das Thema der verschollenen Tanzenden so gut wie nicht künstlerisch behandelt haben. Er räumt ein, dass er damals sehr mit dem Aufbau seiner Compagnie zu tun hatte.
Ging es Mary Wigman auch so? Die Schule ging ihr über alles. „Ich habe meine Schule verloren“, klagt sie, als die Nationalsozialisten 1942 ihr Dresdner Institut in parteitreue Hände übergeben. Hat sie alles andere wirklich nicht wahrgenommen oder sogar geschätzt? Neumeier hat die Reife, sich zu fragen, ob man je genug tut angesichts politischer Bedrohungen und verweist auch auf den Ukraine-Krieg. Im Stück hört Wigman mit versteinerter Miene Klägerin und Verteidiger zu, die Fakten aus ihrem Leben zusammentragen. Immerhin fand sich ein Dokument, das sich auch die Tänzerinnen und Tänzer genau anschauen: Per Eingabe ans sächsische Volksbildungsministerium erreicht sie 1933, dass sie 5 Prozent jüdischer Schüler behalten darf! Das gelingt einer Mutter nicht mal für den Privatballettunterricht ihrer „halbjüdischen“ Tochter. Wie weit ging das Einverständnis bei Rudolf von Laban, der ebenfalls für die Berliner Olympischen Spiele choreographierte (Goebbels sagte sein Stück allerdings ab) und erst aufgrund der Denunziation als Homosexueller nach London floh. Giesenberg tanzt ihn als den weitausgreifenden Lehrer auf dem Monte Verità, der den Kuss des Partners abwehrt und mit den Armen oft ins Leere greift, eine aus Anziehung und Verbot gespannte Mimikry.
Neumeier hat die historischen Tanzstile nachempfunden, nicht zitiert. Wir sehen die eckig in sich verwinkelten Bewegungen der oft mystisch verschleierten Wigman, den exaltiert stürzenden Stil Harald Kreutzbergs (Raymond Hilbert), die lebenslustig drauflosspringende Palucca (Ida Stempelmann), eine als „Halbjüdin“ Geduldete, aber „mehr als 30 bis 40 Zeilen möge man über sie nicht schreiben“, befand die Partei. Verausgabend zeigt sie später die existentialistische Seite des Ausdruckstanzes.
Es fehlen nicht die halbnackten Streuen-Schöpfen-Gruppen, von denen Lotti Huber, eine der bekannteren verfolgten Tänzerinnen durch ihre spätere Zusammenarbeit mit Rosa von Praunheim, so gern erzählte. Die in der Fassung für zwei Klaviere expressiv geschärften Sätze des „Sacre du Printemps“ durchziehen den Abend, der auch exzellente Live-Musik integriert (Jay Gummert, Marschall McDaniel). Bis die Tänzer als Nazis im Stampfschritt mit „Erika“ über die Bühne traben. Das Orpheus-Gemälde von Anita Rée, das heute wieder im Hamburger Ballettzentrum sichtbar ist und hier reproduziert wurde, wird wie zur Nazizeit übertüncht. Die verfolgte Künstlerin beging damals Selbstmord. Im Hintergrund kann man auch sehen, wie ein Tänzer sich lange am Fenster herumdrückt und plötzlich springt. Das sind sensible, stumme Momente, die in Neumeiers Collage für die vielen unerzählten Biografien stehen, von denen man gar nichts weiß. Wie der Abschied zweier Freunde, ein rührendes Duett zur Geige. Und nach und nach verschwinden Tänzer durch die rückwärtige Tür.
Am Ende wird auf die weißen Wände wieder das Bild des Probensaals mit Rées Gemälde projiziert. Kiran Wests eindringliche Videoarbeit zeigt, wie es Nacht wird im Saal. Und aus den Türen des Parketts verlesen die Tänzerinnen und Tänzer die Namen der Verfolgten. Das ist gerade nach ihrem bunten Bohemian-Rhapsody-Tanz tief berührend. Lebensfreude und das mahnende Andenken gehören zusammen, weil nichts selbstverständlich ist. Schön wie Neumeier hier seine Reife und Recherche mit dem Wissensdurst und dem Selbstbewusstsein der jungen Tanzenden zusammenführt in einer Collage, die auch seine Formsprache nochmal erweitert und öffnet. Ein höchst gelungener, wichtiger, bewegender Abend.