Gürbacas Odysseus ist unterwegs, will aber gar nicht nach Hause und weiß eigentlich auch nicht, was er überhaupt will. Er befindet sich in einem Prozess der Selbstfindung, auf der ihn manche ein Stück begleiten, ihm weiterhelfen. Andere gehen verloren, bleiben auf der Strecke, haben ausgedient. Bei der phäakischen Königstochter Nausikaa entdeckt er sich als Liebender, schreckt aber vor einem Leben als Ehegatte zurück. Auch der Partykönig Alkinoos kann ihn nicht zum Bleiben überreden. Die Lotophagen ebenso wie Kirke verlocken zwar die Gefährten des Odysseus, er selbst aber muss weiterziehen. Eine Umarmung mit seiner Mutter im Totenreich bleibt ihm verwehrt und mit der in Ithaka wartenden Penelope wird’s nichts mehr.
Mythos und Moderne
Gürbaca operiert am offenen Herzen, dringt immer tiefer in die Figur des Odysseus ein, legt dabei gleichzeitig die Prozesse des Theaters frei, nicht nur weil der Protagonist auch ein Selbstporträt des Komponisten ist, der das Textbuch dieser Oper gleich mitverfasst hat. Dieses steckt voller literarischer Anspielungen, nimmt Bezug auf Homer, Dante und James Joyce und auch die Regisseurin erzählt Mythos und Moderne gleichzeitig. Odysseus ist eben nicht nur ein moderner Mensch, sondern er schleppt auch ein schweres mythologisches Päckchen mit sich. Je weiter wir ins Bewusstsein des Protagonisten dringen, desto anspielungsreicher werden die Kostüme. Beim Showdown in Ithaka, dem Mord an den Freiern, zitieren die Kostüme von Silke Willrett die antike Mythologie herbei, bevor Odysseus sich dieser letztlich entledigt und allein zurückbleibt: erschöpft, aber irgendwie auch glücklich.
Sinnlicher Zwölftöner
Dallapiccola greift für seine „Ulisse“-Partitur zwar auf die Zwölftontechnik Arnold Schönbergs zurück, nutzt die Reihe aber nicht primär als Tonvorrat, sondern betrachtet sie als Melodie, was ihr eine gewisse farbige Sinnlichkeit verleiht. Francesco Lanzillotta dirigiert das Stück mit ruhiger Hand, webt geduldig, achtet auf Fäden und Linien, verliert sich nie im Großen und Ganzen. Der von Tilman Michael einstudierte Chor hat als Gegenüber von Odysseus eine Hauptrolle und mit Flüstern, Sprechen und Singen viel zu tun, ist mehrfach aufgeteilt, auf der gesamten Bühne platziert und dabei immer überaus präsent. Iain MacNeil singt die hochliegende Partie des Odysseus mit leichtem, schönem Bariton, aber auch Kraft für die verzweifelten Ausbrüche. Alle übrigen Rollen sind eher klein, teilweise aber luxuriös besetzt: Claudia Mahnke als bettlägerige Antikleia, Andreas Bauer Kanabas als dauertänzelnder Alkinoos und besonders Sarah Aristidou als höhensichere, so gar nicht naive Nausikaa.
Tatjana Gürbacas Frankfurter Inszenierung von Dallapiccolas „Ulisse“ ist klug und sinnlich-theatral zugleich, die musikalische Interpretation ist vom Feinsten – doch zwei Stunden ohne Pause sind auch bei italienischen Zwölftönern ganz schön lang.
Weitere Vorstellungen: 1./7./10./15/.18./21.7.22