Foto: Joachim Henschke und Monika Lennartz © Matthias Stute
Text:Detlev Baur, am 5. Juni 2022
In der Mitte der Bühne (Gabriele Trinczek) ragt eine Leiter in die Höhe. Sie wird in der Krefelder Inszenierung von Wajdi Mouawads „Vögel“ nur einmal bespielt. Kurz nachdem sich Eitan (David Kösters) und Wahida (Katharina Kurschat) in einer New Yorker Bibliothek kennengelernt haben, tanzen sie frisch verliebt in einem Club um die Leiter herum, Wahida steigt auf die ersten Stufen, Eitan hält sich fest, während er, der aus Israel stammende Naturwissenschaftler die aus Palästina stammenden Historikerin nüchtern, ironisch und zugleich überwältigt umgarnt.
Globales Familiendrama
In den folgenden zweieinhalb Stunden spielt die Himmelsleiter keine Rolle mehr – und doch bleibt sie ein starkes Zeichen für ungenutzte Auswege aus dem irdischen Klein-Klein von Hass, Misstrauen und der Unfähigkeit zu ehrlichen Neuanfängen. Das Drama des gebürtigen Libanesen Wajdi Mouawad verbindet mit geschickter Seriendramaturgie die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts mit einer jüdischen Familie. Eitans Vater David ist strikt gegen die Verbindung mit einer Feindin. Sein Sohn sucht daraufhin zusammen mit Wahida die Großmutter in Israel auf, die von Großvater und Sohn David schon lange zurückgelassen wurde. Doch bei einem Bombenattentat wird Eitan verletzt, seine Eltern und der Großvater eilen aus ihrer neuen Heimat Berlin nach Israel und treffen nun im Krankenhaus nicht nur auf Wahida, sondern auch auf die teils unbekannte Großmutter.
Die wird von Monika Lennartz schlagfertig, kratzbürstig und zugleich sensibel gespielt. Der Gast aus Berlin nutzt in einem bemerkenswert ausgeglichenen Ensemble die Rolle am Rande der Familie für so intensives wie leichtfüßiges Spiel. An ihrer Seite spielt der langjährige lokale Star Joachim Henschke zum Ende seiner Krefelder Karriere ihren ehemaligen Mann als einen Fels in der Brandung, den so leicht nichts aus der Fassung bringt. Als sich das Geschehen weiter aufschaukelt, die Geschichte der Familie durch die zeithistorischen Ereignisse in Israel, ein Bombenattentat auf den Flughafen, beschleunigt werden, indem David eine hassvolle Suada gegen die Palästinenser abfeuert, und als Reaktion darauf der Großvater seinem Sohn in aller Ruhe davon berichtet, wie er als Soldat ein Baby in einem von Palästinenser geräumten Ort fand und aus Zuneigung und Überforderung als seinen Sohn David annahm, dass also der Palästina-Hasser David in Wahrheit gebürtig ein Palästinenser ist, zerreißt es David (Christoph Homann) gleichsam: Er liegt nach einem Schlaganfall im Sterben.
Well-made und überladen zugleich
All das ist glänzend in Dialoge gefasst, allerdings überlädt „Vögel“ – zudem mit dem Bild eines Vogels, der sich durch seine Liebe zum Wasser in einen Amphibienvogel verwandelt – die Figuren nicht nur an dieser Stelle ein wenig mit der realen konfliktreichen Geschichte im Nahen Osten samt Vorgeschichte im Holocaust. Im zweiten Teil wirken die Personen auf der Krefelder Bühne vor den Bildern von Kriegsopfern dann nicht nur optisch zuweilen etwas klein. Insgesamt gelingt dem scheidenden Schauspieldirektor Matthias Gehrt jedoch eine überzeugende Abschiedsinszenierung. Nicht nur wegen der ulkrainischen Schauspielerin Kateryna Nazemtseva in der Rolle der Krankenschwester und des aus Syrien stammenden Raafat Daboul als dem arabischen Gelehrten Al-Hasan Al Waazan, einem kulturellen Grenzgänger im 15. Jahrhundert, ist die Aktualität dieses Dramas um Gewalt zwischen Völkern und Kulturen schlagend. Die Inszenierung ist ein würdiger Abschluss einer Schauspieldirektion, die den Blick des Schauspiels in Krefeld und Mönchengladbach seit vielen Jahren auch in Richtung außereuropäischen Theaters öffnet. Zum Wohl des lokalen Publikums, das am Ende glücklich das Ensemble feierte, auch wenn die Premiere wie vielerorts derzeit nicht ganz ausverkauft war.
Anders als der ebenfalls anhand einer Familie kulturelle Konflikte durchspielende Klassiker „Nathan der Weise“ ist das Ende von „Vögel“ wenig optimistisch. Wahida will ihre Wurzeln in Palästina suchen, Eitan bleibt allein, zehrt immerhin von der erfahrenen Liebe. Die Leiter nach oben bleibt in Krefeld weiter ungenutzt, steht aber auch am Ende noch im Zentrum der Bühne. Ist noch nicht alles verloren?