Kerck holt das Stück radikal in die Gegenwart, ohne die mythologischen Dimensionen aufzugeben. Der Flughafen, liebevoll rekonstruiert durch Videos von Astrid Steiner, wird durch eine Tsunamiwelle – der Euphrat tritt über die Ufer – zerstört. Einer der Überlebenden, der Priesterkönig, erklärt sich zum neuen Beschützer und bestimmt ein Menschenopfer, um zukünftige Naturkatastrophen zu vermeiden. Während die Juden die Rechtmäßigkeit des Opfers verhandeln, die anderen ihr Überleben feiern, wird Tammu als zu Opfernder ausgewählt. Die Realität des Handlungsortes Flughafen bleibt zwar erhalten, doch wird sie immer wieder überblendet, angefüllt mit Mythologischem wie der Personifikation des Euphrat oder des Todes. Zudem steigt Inanna in die Unterwelt hinab, um ihren geopferten Geliebten Tammu zurückzuholen. Die Liebe siegt über den Tod, die Menschen bekommen eine zweite Chance, ein riesiger Planet erscheint im Hintergrund. Die Zeit scheint neu geordnet, die Realität zieht wieder in das runderneuerte Flughafengebäude ein, das neusortierte Liebespaar reist ab, die Seele lässt sich trotzdem baumeln. Das ist ein bisschen viel des Guten, wird aber von Kerck abschließend – so viel sei verraten – ironisch gebrochen.
Wiesbaden spielt die sogenannte Berliner Fassung des Stückes, für die Jörg Widmann massiv gekürzt, aber auch neue Teile komponiert hatte. Geblieben sind die für den Komponisten sonst untypischen massiven Klangblöcke, die bis an die Grenzen der erträglichen Lautstärke gehen, sowie eine Vielfalt der Musikstile, die überbordend, orgiastisch, lustvoll kombiniert werden, aber kompositorisch gebändigt sind. Die Polystilistik reicht vom barocken Choral bis zum bayerischen Defiliermarsch, von Purcell bis Lehár, wobei die Musik nie eklektizistisch wirkt, sondern immer kontextuell abgestimmt mit perfekten Übergängen von einer Sprache in die andere. Dabei bleibt Widmann auf dem Boden der Tonalität, schreitet diesen aber bis an die Grenzen der Diatonik aus.
Musikalische Sprachentwirrung
Der Dirigent Albert Horne bringt Ordnung in die musikalische Sprachverwirrung, organisiert das Geschehen, leitet mit großer Übersicht das bis in die Logen verteilte Orchester und den vielfach geteilten Chor. Nicht immer sind die einzelnen Sänger und kleineren Ensembles gut zu hören, was aber wohl an den Widmann‘schen Klangmassen liegt. Michelle Ryan singt die Seele mit wunderbar warmem lyrisch-innigem Sopran, Sarah Traubel die Inanna mit überwältigenden Höhen. Leonardo Ferrandos schöner Tenor geht als Tammu ein wenig unter, während Andrea Bakers Euphrat souverän auf dem Klang schwimmt. Ein schauspielerisches und sängerisches Glanzstück liefert Otto Katzameier als Tod. Erschöpft und gelangweilt vom immer gleichen Sterben, ist er hin und weg von Inanna, girrt und gurrt zu ihren Füßen, verliert die Sprache, stammelt und würgt, dass es eine Lust ist.
Wiesbaden hat ein überzeugendes Plädoyer für Widmanns „Babylon“ abgeliefert, ob das Stück Repertoiretauglichkeit erlangt, bleibt allerdings abzuwarten.
Weitere Vorstellungen: 1./11./19.6./14.7.22