Foto: Brüste und Eier © Krafft Angerer
Text:Anne Fritsch, am 1. Mai 2022
Zugegeben: „Brüste und Eier“ ist kein Titel, der einen sofort abholt. Und auch das deutsche Buchcover versprüht mehr Kitsch als Charisma. Trotzdem ist der Roman der japanischen Autorin Mieko Kawakami lesenswert. Und die Bühnenadaption von Christopher Rüping, die nun am Hamburger Thalia Theater uraufgeführt wurde, ist schlicht der Knaller. Laut Rüping gehört der Abend zu einer Familientrilogie, die ihren Anfang 2020 mit „Einfach das Ende der Welt“ nach Jean-Luc Lagarce am Schauspielhaus Zürich nahm. Der Regisseur hat sich vorgenommen, „in drei voneinander unabhängigen Arbeiten das Konstrukt der Familie im 21. Jahrhundert“ zu be- und auch zu hinterfragen.
„Brüste und Eier“ nun ist der zweite Teil: Die Geschichte von Natsuko, deren Familie aus ihrer Schwester Makiko und deren Tochter Midoriko besteht. Der gewalttätige Vater war eines Tages einfach weg, was die Frauen der Familie als Erleichterung erlebten. Einen Nachfolger gab es nicht. Mutter und Großmutter sind gestorben, bevor die Mädchen erwachsen waren. Natsuko ist schließlich aus Osaka nach Tokio gezogen, um Schriftstellerin zu werden, jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Männer spielen in ihrem Leben eine eher marginale Rolle. Mit Kindern allerdings muss sie sich auseinandersetzen, als ihre alleinerziehende Schwester samt Tochter nach Tokio kommt, um sich die Brüste vergrößern zu lassen. Sie arbeitet in einer Bar als Hostess, soll die Kunden zum Trinken animieren und da sind Brüste eben entscheidend. Die pubertierende Midoriko hat aufgehört zu sprechen, um Streit mit ihrer Mutter zu vermeiden. Stattdessen vertraut sie ihre Gedanken über die Menstruation, die vielen Eizellen in ihrem Körper und das Kinderkriegen ihrem Tagebuch an: „Warum bringt man einen neuen Körper auf die Welt, wenn einem der eigene schon so zu schaffen macht?“
Ein Kind bitte, aber ohne Mann
Dass diesen Roman nun ein Mann inszeniert, ist definitiv kein Manko. Christopher Rüping hat schon einmal einen Roman über Frauen für die Bühne adaptiert: 2017 inszenierte er Miranda Julys „Der erste fiese Typ“ mit Maja Beckmann und Anna Drexler an den Münchner Kammerspielen, auch das gelang famos. Weil Rüping den Menschen sieht, nicht „die Frau“ oder „den Mann“ oder ganz allgemein die Rolle, die die Gesellschaft einem Menschen gerne verordnet. Natsuko ist natürlich eine Frau; die Fragen, die sie sich stellt, aber betreffen uns alle. Das macht Rüping gleich zu Beginn klar. Maike Knirsch steht auf der bis auf ein kleines Papierhäuschen leeren Bühne, spricht das Publikum direkt an: Wer hat Kinder? Wer will mal welche haben? Und vor allem: Warum? Woher soll man wissen, ob der Wunsch echt ist? Will ich das nur, weil es von mir erwartet wird? Und will so ein Kind überhaupt in die Welt gesetzt werden? – Rüping zieht sein Publikum wie oft direkt rein ins Herz der Thematik und inszeniert in der Folge ein echtes Schauspiel- und Ensemblefest.
Maike Knirsch ist grandios, wie sie das Dilemma der Frau zeigt, die ein Kind will, aber lieber keinen Sex und auch keinen Mann. Ob eine anonyme Samenspende jedoch der richtige Weg zum Ziel ist, ist auch fraglich. Zu genau beschreibt Hans Löw als Ergebnis einer solchen die Not des Kindes, das nicht weiß, wer der Vater ist. Nils Kahnwald, einer von Rüpings Stamm-Spielern, führt das Publikum durch eine Vergangenheit, in der er – Natsukos Kind – noch nicht geboren war, versucht die Motivation seiner Mutter zu ergründen. (Später hat er auch noch einen fulminanten Auftritt als besessener Samenspender, der allein den Besuch dieses Abends rechtfertigen würde.) Die Szenen in der Vergangenheit inszeniert Rüping als Puppenspiel in einer Sperrholz-Puppenstube, die in ihrer Größe oder vielmehr Enge den Wohnverhältnissen in Tokio wohl recht nahe kommt (Bühne: Jonathan Mertz). Hier treten Natsuko, Makiko und Midoriko mit überdimensionierten, erstaunlich ausdrucksstarken Masken auf. Das restliche Ensemble sitzt am Rand auf der Bank, synchronisiert das stumme und auf vielen Ebenen verfremdete Spiel.
Ein Abend für alle
Hans Löw spielt die Makiko mal mit, mal ohne Maske und macht den ganzen Probleme weiblichen Körperwahns spürbar: „Ich will hübsche Brustwarzen haben!“ Seine seien schwarz, wie „ein Fernseher, wenn du ihn ausmachst“. Im Nebel steht er in rosa Shorts mit nacktem Oberkörper auf der Bühne und hält einen Brust-Unzufriedenheits-Monolog, der zugleich zu Tränen rührt und in seiner Abstrusität urkomisch ist. Bis es Oda Thormeyer zu viel wird, sie die Rolle an sich reißt und zum heiteren Brustvergleich animiert. Saori Hala redet sich als verheirateter Liebhaber auf japanisch über einen Atomunfall in Rage. Julian Greis ist als pubertierende Tochter die grandioseste Fehlbesetzung aller Zeiten und Ann Ayano schlägt zart und bestimmt zugleich die Brücke zwischen japanischer und deutscher Sprache wie Kultur. Die Sehnsucht nach einem Kind ist keine rationale. Viele Gründe sprechen in Tagen des Klimawandels dagegen. Die Menschen pflanzen sich trotzdem fort, das Bedürfnis zu leben und zu lieben und zu wiegen kulminiert in einer grandiosen Abba-Choreographie: „Lay all your love on me“.
Es ist Rüpings großes Talent, jedem und jeder im Ensemble Raum zu geben, sich in all ihrer Individualität zu entfalten – und all die Individuen zu einem großen Ganzen zusammenzufügen, in dem sie aneinander wachsen können. Ob Mann, ob Frau: Jeder kann hier jede spielen und jede jeden. Als dann um 22.29 Uhr allen Widrigkeiten zum Trotz unter großen Schmerzen und noch größeren Glücksgefühlen ein Kind geboren wird, ist eines längst klar: Dies ist ein Abend für alle, die Kinder haben, Kinder wollen, keine Kinder haben, keine Kinder wollen, die Eltern haben. Also schlicht: für alle.