Mit einem Schritt aus dem quadratischen Bilder- oder Fernsehrahmen heraus tritt die Mutter nur eine Minute später in den Tod. In der nächsten Szene ist die Zeit auf Ernestines 18. Geburtstag gesprungen. Sie verspricht sich, Gott zu überraschen, etwas Besonderes aus ihrem Leben zu machen, die Welt zu bereisen und sich nicht in Matt zu verlieben. Noch eine Szene weiter ist es schon Ernestines 41. Geburtstag – sie ist in Michigan geblieben, hat Matt geheiratet und zwei Kinder bekommen. Hat sie ihr Leben vertan? Immer wieder stellt Ernestine sich, uns und dem Universum diese Frage.
Starke Ensemble-Leistung
Aber, dem großartigen Ensemble sei Dank: Umso länger der Abend dauert, umso weniger stört das mitunter esoterische Geschwurbel. Vor allem Alexander Khuon als zynischer Ehemann und Bernd Stempel als verschmähter Liebender geben der unterkühlten Inszenierung einen wärmenden Puls, einen Herzschlag, Witz und Ironie. Der trockene Humor, mit dem sich Stempels Figur Kenneth die Abfuhren abholt, ist herzerweichend. Er lässt sich von seiner Liebe zu Ernestine nicht abbringen – und seine Geduld zahlt sich in seinem 88. Lebensjahr endlich aus.
Und auch Corinna Harfouch lässt sich vom Rotieren der quadratischen Bühnentrommel kaum irritieren und zeigt das voranschreitende Alter ihrer Ernestine mit treffenden kleinen Gesten. Sie bleibt sowohl Sinnsuchende als auch liebende Mutter, die versucht, im Lebensstrom den Kopf über Wasser zu halten.
Realismus oder Konzept
Doch Anna Bergmann kann es nicht lassen, die Inszenierung konzeptionell zu überfrachten. Die Schauspieler und Schauspielerinnen (außer der Hauptfigur) sind schneeweiß geschminkt, mit Blut besudelt, tragen schmutzige Klamotten, als seien sie eben einem Grab entstiegen. Und das Bühnenquadrat beginnt sich zu drehen, sodass das Ensemble klettern und rutschen muss, um nicht kopfüber zu fallen. Vermutlich soll sich alles in Ernestines Kopf abspielen, ein Vorbeihuschen der Ereignisse kurz vor ihrem eigenen Tod.
Man kann die Regisseurin schon verstehen: Die Inszenierung am Broadway, die Ernestine in einer naturalistischen Küche tatsächlich Kuchen backen lässt, so wie der Autor es fordert, wurde selbst von den wenig gefühlsscheuen amerikanischen Kritiker:innen als für zu sentimental befunden. Mann muss bei Haidles realistischen Stücken durchaus vorsichtig sein, dass sie auf der Bühne nicht zu betulich und altbacken daher kommen. Vor allem, wenn eine Frauenfigur ausschließlich als Mutter und Hausfrau charakterisiert wird.
Doch Bergmanns verkopftes Konzepttheater ist eben auch nicht die Lösung. Dass Ernestines Leben voller Schicksalsschläge und großer Verluste zuletzt doch sehr anrühren kann, ist der Verdienst des so menschlich, zärtlich und humorvoll spielenden Ensembles.