Man rätselt auch darüber, was ihre Geschichten mit Schillers Frage nach der Berechtigung des Tyrannenmords zu tun haben. Wenn es bei Schiller um ein Pathos der Freiheit geht, das die Befreiung von brutaler Fremdherrschaft meint – Rau zitiert eine berühmte Zürcher Inszenierung aus dem Jahr 1939, als der Pfauen Zuflucht für ein Exilensemble war –, beschreiben die Laiendarsteller nur zu offensichtliche Missstände in der Schweiz: den rigiden Umgang mit Geflüchteten, die finanziell bedingte Notlage im Pflegewesen, eine Feindseligkeit Deutschen gegenüber.
Zu viel Ideen
Das exzellente Schauspielensemble (Maya Alban-Zapata, Maja Beckmann, Karin Pfammatter, Michael Neuenschwander und Sebastian Rudolph) bleibt während des knapp zweistündigen Abends seltsam unterbeschäftigt. Pfammatter erzählt von ihrer Jugend im Wallis, wo sie Mitglied einer Theatergruppe war. Maja Beckmann hat ähnliche Erfahrungen aufzuweisen. Sebastian Rudolph tritt – in memoriam einer denkwürdigen „Hamlet“-Aufführung von Christoph Schlingensief vor zwanzig Jahren im Pfauen – in einer SS-Uniform auf. Michael Neuenschwander steht oft am Kontrabass. Maya Alban-Zapata beklagt sich darüber, als POC das Gewissen des Theaters sein zu müssen.
Was vom „Tell“ bleibt, sind die Grundszenen: Der Apfelschuss, klar, dieses grausame Machtbegehren des Landvogts Gessler, die mit einer verwaschenen Stummfilmästhetik dargestellte dramatische Überfahrt des gefangenen Tell über den Vierwaldstädter See, ein paar Verse des Urschweizers Attinghausen aus der Auseinandersetzung mit seinem abtrünnigen Neffen Ulrich von Rudenz („Uly! Uly!“), der Mord an Gessler aus dem Hinterhalt der hohlen Gasse (dem hier seltsamerweise ein erotischer Subtext unterlegt wird) und der finale Auftritt des Johannes Parricida, der seinen Onkel wegen Erbbetrugs erschlagen hat. Im Programmheft ist zu dieser Figur Kluges zu lesen: Während Tell nur aus Privatinteresse handle und darin „sehr schweizerisch“ sei, zeige Parricida „dass sich Tyrannenmord, Aufstand, Hochzeit und Freiheit nur erkämpfen lassen, wenn man über die Grenzen des Privatinteresses hinaus dächte und handelte“.
Gut gesprochen. Nur sieht man davon nichts. Aus sehr vereinzelten Fragmenten lässt sich keine Auseinandersetzung mit Schiller basteln. Vielleicht wollte Milo Rau zu viel: Nationalsozialismus, Schlingensief, die Schweiz von Heute, Schauspieler im Spagat zwischen biografischer Erzählung und Rolle – das will sich nicht zum Ganzen fügen. Raus Inszenierung ist eine Art Hybrid geworden: Hier die (vom Publikum gefeierten) Laiendarsteller, dort die Profis aus dem Ensemble. Die Botschaft vernimmt man wohl: Die Freiheit muss auch in der Schweiz von heute immer wieder neu erkämpft werden. Das wusste man allerdings schon vor diesem Theaterabend.