Androides Pulsieren
„Untitled Black“, hier der erste Teil der Premiere, haben Sharon und Gai Behar ursprünglich 2012 für die GöteborgsOperans Danskompani choreografiert. In Darmstadt wurde es jetzt erstmals von einer anderen Kompanie wieder einstudiert. Der anhaltende internationale Erfolg des israelischen Choreograf:innen-Duos zeigt sich auch darin, dass ihre Stücke ins Repertoire europäischer Tanzensembles übergehen und der Hype um beide immer kontinuierlichere Formen annimmt. Die unverkennbaren Markenzeichen ihrer Arbeiten finden sich auch in diesem Stück: rhythmisch-dröhnender Techno (Musik wie gewohnt von Ori Lichtik), organische Gruppenformationen und eine hochenergetische Bewegungssprache. Letztere ist hier sehr futuristisch angehaucht. Sowohl die teils roboterhaft zuckenden Bewegungen der Tanzenden als auch die Kostüme – silbrige, hautenge und glänzende Anzüge mit Harlekin-Mustern, entworfen von Maayan Goldman – vermitteln eher den Anblick androider als rein menschlicher Wesen. Immer wieder stechen markante Gesten (wie zugehaltende Münder) heraus; oder der wiederholte Einsatz kleiner bis kleinster Schritte rückwärts, die die Tänzer:innen ganz langsam im Dunkel der hinteren Bühne (Licht: Avi Yona Bueno) optisch verschwinden lassen. Die große Faszination dieses abstrakten, nahezu immersiven Tanzereignisses liegt weniger darin, dass es allzu umfängliche thematische Assoziationsmöglichkeiten bieten würde. Vielmehr überzeugt die Mehrdimensionalität der Formationen: Denn das Auge der Zuschauenden wähnt stets sowohl die Tanzbewegung der Gruppe als auch die des einzelnen Körpers, während musikalischer und choreographischer Takt teilweise auseinander gehen und trotzdem immer eine Zusammengehörigkeit demonstrieren. Die verschiedenen, parallel stattfindenden Bilder wirken bei aller Komplexität nicht überfrachtet. Die Tänzer:innen des Hessischen Staatsballetts meistern diese herausfordernden Prinzipien mit nahezu brillianter Präzision, genau wie den Wechsel in die kontrapunktisch konzipierte zweite Arbeit des Abends.
Fluide Körperlandschaften
Nach Eyals lauter und pulsierender Arbeit kommt Xie Xins Auftragswerk in etwa so leise und zart daher wie ein Flügelschlag. „Timeless“ ist fluide, weich, trotz aller Dynamik zärtlich. Und leise. Praktisch geräuschlos wirbeln, drehen und springen die Tänzer:innen über die Bühne. Obwohl sie häufig mit dem ganzen Körper den Boden berühren, erscheint jedes Hinabbeugen, jedes Rollen und Ziehen über die Tanzfläche beinahe wie ein Schweben. Die weiten, in Naturtönen gehaltenen Anzüge und Gewänder (Kostüm: Li Kun) gleiten den fließenden Bewegungen angemessen hinterher. Sylvian Wangs langsame und tragende musikalische Komposition für vier Streicher und Klavier spielen Musiker:innen des Staatsorchesters Darmstadt im Hintergrund auf der höchsten von drei ausfahrbaren Podesten (Bühne: Hu Yanjun). Xie Xin, ehemals Tänzerin für chinesische und europäische Tanzensembles, arbeitet seit einigen Jahren als Choreographin mit ihrem XieXin Dance Theatre und ist dabei zunehmend international gefragt. Auch in Europa wächst das Interesse an der markanten Handschrift der Chinesin. Ihr Stil ist wesentlich beeinflusst durch die chinesische Malerei und die Kalligrafie. So erinnert die Bühne mit den unterschiedlich hohen Podesten und weichen Bewegungen der Tänzer:innen phasenweise an ein Gemälde, das Wellen, einen Berg oder Fluss zeigt. Verstärkt wird dies durch das Lichtkonzept (Alexander Henze); mehrmals werden kleine, in Wellenformen hängende Leuchten vorübergehend von der Decke herabgelassen. Alles symbolisiert eine Ausgewogenheit – zwischen Ying und Yang, Hell und Dunkel, Mensch und Natur. Absolut beeindruckend ist dabei, dass keine der bildhaften Andeutungen je plakativ wirkt, und dass sich Bühne, Choreografie, Musik und Licht auf eine harmonische, nicht aber eintönige Weise ergänzen. Der organische Fluss der Choreografie droht nie abzureißen – jede Bewegung, ob im Solo, Duett oder Quartett, hat ihre Konsequenz und Weiterentwicklung in der nächsten.
Allzu Menschliches
Woher kommt der Mensch, was macht ihn aus? Diesen Fragen spüren die Choreografien des Abends nach. Beide Antworten sind abstrakt, spannen einen energetischen Bogen zwischen futuristischen Zukunftsperspektiven bei Sharon Eyal und harmonischen Körperlandschaften bei Xie Xin, die auf den natürlichen Ursprung des Menschen verweisen. So gegensätzlich die Herangehensweisen, so gelungen ist ihr Zusammenspiel. Im voll besetzten Darmstädter Staatstheater konnte die aus Shanghai stammende Xie Xin bis zuletzt proben und dann bei der Premiere doch nicht, wie Intendant Karsten Wiegand vorab berichtete, vor Ort sein – weil sie wohl in letzter Minute erkrankte. Die stürmische Begeisterung des Publikums live zu erleben wäre ihr mehr als vergönnt gewesen.