Foto: Ein Roboterarm steht in "Undine" auf der Bühne des Leipziger Schauspiels. © Rolf Arnold
Text:Thilo Sauer, am 1. April 2022
Der Auwald im Westen von Leipzig ist, wenn man der Schauspielerin Sonja Isemer glauben darf, ein einzigartiger Ort. Mitten in einer Stadt gibt es kaum so vielfältige und ursprüngliche Natur: Kleine Bäche und Flüsse durchziehen das Gebiet. Bäume, Wiesen und sumpfige Stellen bieten einer Vielzahl von Lebewesen einen Raum.
Doch dieses Stück Natur ist bedroht – vom Menschen. Dieses merkwürdige Tier, das sich von der Natur fast schon losgesagt hat, schadet sich damit auch selbst: Für die Leipzigerinnen und Leipziger bedeutet der Auwald ein Rückzug und Erholung – er ist die grüne Lunge der Stadt. Wenn sie austrocknen und verschwinden würde, wäre das verheerend. Doch das wird nicht einfach so passieren: Das Wasser selbst könnte sich rächen. Das erzählt Anna-Sophie Mahler in ihrem neuesten Musiktheaterprojekt „Undine“ am Schauspiel Leipzig.
Recherche über Naturprobleme
Es beginnt schlicht: Der eiserne Vorhang ist heruntergelassen. Auf der Vorderbühne steht ein Sessel, der aus dem Vorraum eines Büros stammen könnte, und davor ein Tischchen mit einem Glas Wasser. Sonja Isemer betritt die Bühne im Business-Outfit auf Pumps, mit schmalen Absätzen, die sie immer wieder aus- und dann wieder anzieht – in Anlehnung an das bekannte Märchen von der Meerjungfrau scheint sie nicht ganz an Schuhe gewohnt zu sein.
Mithilfe von Kreidezeichnungen auf dem grauen Bühnenstahl erzählt sie von den Flüssen in Leipzig und wie die Neue Luppe das Grundwasser aufsaugt und den Auwald austrocknet. Und sie berichtet, wie die Stadt seit den Neunzigern versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Ihre Ausführungen, die Isemer mit wunderbarer Energie vorträgt, werden von Lachen begleitet. Es ist zynisches Lachen über die Unfähigkeit, einfach die Welt zu retten – wir wollen es, aber es fällt so schwer. Dafür hat die Regisseurin Anna-Sophie Mahler gemeinsam mit Kathrin Veser in der Stadt recherchiert, mit Akteurinnen und Akteuren aus der Wasserwirtschaft gesprochen und Protokolle des Stadtparlaments durchgeschaut.
Immer wieder nimmt die Schauspielerin ein Schluck aus dem Wasserglas, bis sie gegen Ende ihrer Ausführung nur noch wenige Tropfen in ihren geöffneten Rachen fallen lässt – ein feines Bild für das Thema. Schließlich tritt auch Undine in Form von Musik auf: Michael Wilhelmi setzt sich ans Klavier und spielt Kompositionen von Impressionisten, die schon immer einer Vorliebe für das Wasser hatte. So wird die Musik selbst zur Spielerin, zur Darstellerin des Wassers.
Mechanischer Protagonist
Zu spannenden Sounds, die Wilhelmi anschließend auf dem Klavier erzeugt, räumt Isemer die Vortragsbühne, zieht sich eine Art Brustpanzer an und zieht ein Mikroport über. Mit nun technisch verstärkter Stimme kündigt sie an, dass das Wasser zurückkommen wird. Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick auf ein ungewöhnliches Bühnensetting frei: Die Ausstatterin Katrin Connan hat eine halbrunde Wand auf die Bühne gesetzt, auf der eine Sumpflandschaft zu erkennen ist. In der Mitte der Bühne steht auf einem Podest aus Metallstreben eine seltsame Maschine.
Der Roboter erinnert weder an einen Menschen noch an ein bekanntes Tier. Es ist lediglich ein mechanischer Arm. Aus den Boxen ist das „Lied an den Mond“ aus Dvořáks „Rusalka“ zu hören, allerdings mit eher ephemeren Klängen. Während der Text über die Bühne projiziert wird, bewegt sich der Roboterarm, tanzt beinahe, und lässt das Strahl seiner leuchtenden Spitze über das Publikum gleiten. Er selbst ist Rusalka und singt die berühmte Arie.
In einem (etwas pathetischen, aber dennoch spannenden) Monolog stellt er sich und seinesgleichen als die Zukunft vor. Lange spricht er über die Überwindung des Dualismus wie dem, von Natur und Kultur. Das ist die Vision: Technik und Natur verbinden sich, um etwas Drittes zu bilden. So kann die Natur sich wieder ausbreiten und ganz anders auf Heraus- und Anforderungen reagieren.
Starkes Theater für die Stadtgesellschaft
Gegen Ende fällt Starkregen auf die Bühne. Durch das geschickte Lichtdesign Carsten Rüger entsteht eine Unterwasserwelt: Die Bühne ist in grünes Licht getaucht und Spots aus dem Saal erzeugen ein magisches Glitzern. Undine, die Verkörperung von Wellen und Wasser, hat den Raum erobert. Das Vokalconsort Leipzig tritt in den Publikumssaal und singt wortlos eine atmosphärische Melodie. Der Scheinwerfer des Roboterarms flackert nur noch. „Im Übrigen bin ich […] für die Versumpfung“ leuchtet über der Szene.
„Undine“ am Schauspiel Leipzig ist Stadttheater, wie es sein sollte: Überzeitlich und doch im Hier und Jetzt. Es richtet sich zwar an das Publikum der Stadt, doch weist gleichzeitig darüber hinaus. Anna-Sophie Mahler erzählt unter Bezug auf mythische Erzählungen eine Geschichte, die es nur in Leipzig geben kann, wo der Auwald gerettet werden will. Dabei verfällt sie nicht in billigen Aktionismus á la „Wacht auf!“, sondern denkt weiter: Sie zeigt einen Ausweg, der fantastisch genug ist, um nicht platt zu wirken.
Mahler greift auf bekannte Musik zurück, aber nicht auf Klischees. Ihr Musiktheater ist ein Diskursraum, in dem sie allerdings nicht die Oper selbst reflektiert und auch nicht Musik auseinandernimmt, sondern ein allgemein relevantes Thema bearbeitet und dabei Poesie und Gefühl zulässt. So ist ein moderner Musiktheaterabend entstanden, der Herz und Hirn anspricht, der berührt und anregt.