Derzeit gibt es niemanden außer Marco Goecke, der das Publikum choreografisch vom ersten bis zum letzten Augenblick so irritierend krass zu beschäftigen und in seiner inhaltlich von Power nur so strotzenden Verschwommenheit derart subversiv-packend anzusprechen vermag. Seiner allerersten Kreation für das Bayerische Staatsballett mit dem Titel „Sweet Bones̕ Melody“ gelingt eine fantastische Symbiose mit der berückend aufgewühlt vom Bayerischen Staatsorchester live gespielten Orchesterkomposition „Mannequin“ der Südkoreanerin Unsuk Chin.
Das Werk, das in einer reduzierten Besetzung unter der souveränen Leitung von Tom Seligman zu Gehör gebracht wurde, basiert auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ und einer Hauptfigur, die – gefangen wie eine Marionette in einer bizarren Welt aus Ängsten und Visionen – zwischen Wahnvorstellung und Wirklichkeit hin- und hergerissen wirkt. Das klanglich üppige Fundament gibt Goecke eine perfekte Steilvorlage, dass sich elf Interpreten mit sehr individuellen Akzenten auf vollendet krude und unfassbar tiefe Art und Weise tänzerisch ausleben.
Da scheint das Herz der auch mal robotrig wie ferngesteuerten Protagonisten bisweilen zu verrutschen und dann weiter im Schritt zu pochen. Immer wieder verzahnen sich einzelne Tänzerinnen und Tänzer – allesamt irgendwie In-Sich-Zerrissene. Sie ziehen ihr Gegenüber an den Wangen zu sich. Oder aber es drängt sie voneinander fort, während einer den Hals des anderen zusammenpresst. Selbst unter Höchstgeschwindigkeit sitzt hier jede Geste, jedes Wirbeln um sich selbst einfach perfekt. Mittendrin lässt Goecke für die Zeit, die es braucht, damit der Tänzer Florian Sollfrank Else Lasker-Schülers Gedicht „Weltenende“ vortragen kann, jede Bewegung und den Klang in Stille erstarren. Deutlich zu verstehen wie sonst selten hat Goecke diesmal die einer früheren Zeit entliehenen Worte seinem ihm ureigenen Bewegungskosmos hinzugefügt.
So bringt er am Ende künstlerisch unglaublich gewieft und visuell reduziert auf fast nur Grau-Schwarz alles zuvor Gezeigte auf den gemeinsamen Nenner momentanen globalen Kriegs- und Weltschmerzes: die zu Beginn des Abends – flankiert von herrlicher Farbenpracht – von David Dawson (ebenfalls zum ersten Mal zu Gast in München) aufgebotene famose Schönheit tänzerischer Virtuosität und die erzählerische Verspieltheit, mit der Alexei Ratmansky im Mittelteil „Bilder einer Ausstellung“ punktet. Seltsam prallen gegen Ende Lippen für einen Kuss aufeinander und abschließend hält ein Tänzer eine weiße Taube in der Hand. Sie darf kurz aufflattern, losfliegen aber nicht. Noch nicht?
Kraft von Liebe und Miteinander
Was für ein Gegensatz zu David Dawsons Uraufführung „Affairs of the Heart“, die den Abend in einer formalen Opulenz aus bloß körperenergetischem Kreisen und den Raum vereinnahmenden Spiralen auf das Wunderbarste eröffnet hatte. Sieben Tänzerinnen und fünf Tänzer werden hier vor einer Palette wechselnder, geometrisch gefasst über Wände kriechender Farbnuancen einfach grandios zum Fliegen gebracht. Musikalisch war dies teils noch etwas wackelig – wohl aufgrund einer kurzfristigen Umbesetzung beim titelgebenden „Konzert für Violine und Streichorchester“ des kanadischen Komponisten Marjan Mozetich.
Immer wieder ziehen ihre ausdrucksstark ungewöhnlich abgewinkelten Hände die Aufmerksamkeit auf sich. Ganz en passant – als wäre das innerhalb einer schon brisanten Dynamik überhaupt nichts – werden Hebungen und technisch irre Figuren in das unaufhaltsame Fließen der Choreografie eingewoben. Aus zahlreichen Begegnungen und offenen Paarbeziehungen entsteht – emotional bewusst abstrakt – eine an Nuancen beeindruckend reiche, lebhaft pulsierende Seelenlandschaft. In ihrer Fülle ist diese auf Anhieb unmöglich ganz zu erfassen. Was man mit nach Hause nimmt? Eine bildstarke Hommage an die Kraft des umsichtigen Miteinanders und der Liebe.
Spiel von Blau und Gelb
Alexei Ratmanskys fröhlich-freche Choreografie zu Modest Mussorgskis Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ von 2014 passt sich da bestens als verbindendes Glied ein. Zehn Protagonisten sind es nur, die der Choreograf hier auf eine leichtfüßig-verspielte Promenade schickt. Ein kurioser Weltenbummel. Obwohl der 30-Minüter auf klassischer Balletttechnik basiert, werden die Tänzer durch quirlige Sprünge, schnelle Drehungen, schwierige Hebungen, neuartige Schrittkombinationen, zeitgenössische Ports de bras sowie hier und da kleine Twists ständig aufs Neue aus ihrer Komfortzone gestoßen.
Von Szene zu Szene nehmen seine Tänzerinnen und Tänzer (als Einspringer darunter Ratmanskys Ballettmeister Amar Ramasar) an Fahrt auf. Sie formieren sich zu einer neugierig aufgelegten Mannschaft und exerzieren – zuweilen solistisch – eine Reihe kurioser Geschichten durch, mitunter von märchenhaften Charakteren wie einem weiblich besetzten zornigen Gnom oder der in München von einem Mann getanzten Hexe Baba Jaga. Verführerisch kindlich in seinem prompten Elan und stets im Einklang mit der Musik, die ihnen den Rhythmus, die Melodie und Stimmung von himmelhoch jauchzend bis zu hinterhältig oder kollektiv betrübt vorgibt.
Kandinskys ideengebende „Quadrate und konzentrische Ringe“ tanzen via Projektionsdesign im Hintergrund mit. Angekommen beim finalen „Großen Tor von Kiew“ schweben sie wie Ballons, dann wie Sterne über einen blauen Himmel. Für München setzt der Choreograf als letzten Höhepunkt ein symbolisches Zeichen obenauf: Die Farben zerfließen zu einem blauen und einem gelben Streifen – genau wie die ukrainische Fahne, die Ratmansky beim Schlussapplaus hartnäckig schwenkt, während seine Interpreten vom Publikum zu Recht bejubelt werden. Zu Putins Angriffskrieg hat der künstlerisch schon lange in Amerika verankerte Ratmansky – als gebürtiger St. Petersburger mit Familie in der Ukraine, wo er einst im Nationalballett als Solist tanzte – bereits im Vorfeld klar Stellung bezogen.