Entartete Muppets in „Funken“ am Theater an der Parkaue

Camp der Außergewöhnlichen

Till Wiebel: Funken

Theater:Theater an der Parkaue, Premiere:26.02.2022 (UA)Regie:Mina Salehpour

Der Satz über „die Welt“, die sich binnen weniger Stunden immer wieder „als eine andere herausgestellt“ hat, bleibt schon beim erstmaligen Hören sofort hängen. Der 13-jährige Protagonist Malte spricht ihn ziemlich gegen Ende der 80-minütigen Uraufführung von „Funken“ aus, nachdem seine Welt bereits mehrfach das Gesicht gewechselt hat. Die sich in diesem Satz ausdrückende Verwirrung, Verunsicherung und Selbstsuche verweisen in diesen entsetzlichen Anfangstagen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auch allgemein auf das gänzlich unpubertäre Zerfallen von grundsätzlichen Überzeugungen zum friedlichen Zusammenleben, von politisch und menschlich Denkbarem und Undenkbarem. Nicht wundernimmt es also auch, dass sich der Parkaue-Intendant Alexander Riemenschneider nach dem Schlussapplaus ausgerechnet mit diesem Satz bei allen Produktionsbeteiligten bedankt.

Zwischen dem „Normalen“ und dem „Anderen“, „Besonderen“; zwischen dem „Hier“ und dem „Dort“; der Erde und anderen Planeten verlaufen die Grenzen keineswegs stringent und unabänderlich. Das muss der „maximal durchschnittliche“ Malte erkennen, als seine Mutter ihn in einem merkwürdigen Feriencamp absetzt, wo ihn ausschließlich Gleichaltrige mit spezifischen „Fachgebieten“ umgeben, Shawn mit Showtalent etwa, Twinkle mit meteorologisch-naturwissenschaftlichem Wissen und Isilda mit technischer Begabung. Erwachsene gibt es offenbar nicht, hier herrschen die Regeln der Heranwachsenden: elternfreie Zone! Was nach einem paradiesischen Sommerabenteuer mit Fünf- bzw. Vier-Freunde-Bandenritualen klingt, entpuppt sich schnell als durch einen Mächtigen („die Stimme“) manipulierte Freiheit, mit deren Kehrseite die Protagonist:innen nur allzu bald umgehen müssen.

Anzeige

Dynamische Darstellung

Poetisch und wohlstrukturiert erzählt der an der Hildesheimer Universität ausgebildete Nachwuchsautor Till Wiebel diese geradezu modellhaft anmutende Geschichte, löst dialogische Passagen mit erzählenden ab und umgekehrt, versteckt seine literarischen und popkulturellen Inspirationen nicht. Mit dem 2021 an Wiebel verliehenen Retzhofer Dramapreis in der Kategorie „Junges Publikum“ war die Uraufführung des Stücks am Berliner Theater an der Parkaue in der Folgesaison verbunden, die nun die im Kinder- und Jugendtheater versierte Regisseurin Mina Salehpour mit vier Ensemblemitgliedern realisiert hat.

Salehpours Inszenierung mutet minimalistisch an und ist zugleich opulent im Material, funkensprühend im wahrsten Sinne des Wortes. Den Boden der Interimsbühne säumt überdimensionales, kreisförmig ausgelegtes Glitzer-Konfetti, auf dem zunächst der Protagonist Malte in einem Astronautenanzug mit funkelnden Applikationen liegt wie bei einer ungewollten, eher zufälligen Mondlandung. Die hintere Bühnenwand lässt sich an einer Stelle bis in die Höhe eines Garagentors öffnen, durch sie treten etwa die anderen Camp-Mitglieder auf, als ein- oder mehräugige, fantasievoll entartete Muppets in schrill-ästhetischem Stilmix und Glitzerboots, genderfluide.

Trotz Nebel- und Stroboskopreizen weist die gesamte Spieldynamik, insbesondere befördert durch die Kostüme (Maria Anderski), Bühne (Andrea Wagner) und Musik (Daniel Nerlich), in die gleiche selbstvergessene, verträumte und entrückte, teils schräge Richtung. Der inhaltliche Wendepunkt führt zwar nicht zu einem ästhetischen Bruch, wohl aber dazu, dass das Spiel der vier so Verschiedenen, sich einander Annähernden (Andrej von Sallwitz als Malte, Salome Kießling als Twinkle, Ioana Nițulescu als Isilda und Denis Pöpping als Shawn) wortwörtlich Fahrt aufnimmt.

Wer gestaltet die Welt?

Dabei ergibt sich, dass der sich hinter der Stimme verbergende mächtige Arthur McPush auch die Welt außerhalb des Camps designt, also über ein absolutes Marktmonopol verfügt (Malte: „Es gibt eigentlich nichts, was es nicht von McPush gibt.“). „Fordern und Fördern. Die Erde kann nur der Anfang sein“, das ist McPushs Leitspruch für sein Camp der Außergewöhnlichen, das sich schließlich als Gefängnis erweist, erweisen muss – in überdeutlicher Anlehnung an „The Truman Show“ bis hin zu einem fast wortgetreuen Zitat aus dem Filmklassiker, in dem der Protagonist (Jim Carrey) als TV-Star vermarktet wird, die Welt als eine eigens für ihn geschaffene Filmkulisse erkennt und sie zugunsten der realen Welt verlässt: „Ich kenne dich schon dein ganzes Leben lang Malte, weißt du. Auch wenn wir uns nie begegnet sind, denke ich schon seit deiner Geburt jeden Tag an dich.“

Dass die zwölf- bis 14-jährigen Protagonist:innen dank ihrer Talente, Fähigkeit zur Gemeinschaft und charakterlichen Integrität ebenfalls einen spektakulären Ausweg finden, der mit einfachen, aber wirkungsvollen Kniffs in Licht und Musik sinnlich erlebbar wird, ist die logische Konsequenz der „Funken“-Handlung. Zugleich spiegeln sich hier die Sicht des Autors auf die nachfolgende Generation, Wertschätzung und ein tiefes Vertrauen in deren Können.

Nicht verhehlt wird der erwachsene Blick, nicht zurückgeschreckt davor, den Jugendlichen allzu Poetisches und Kundiges in den Mund zu legen, bewusst mit der alltäglichen Lebenswelt Jugendlicher zu brechen, vielleicht auch hin und wieder zu überfordern. Folgerichtig lassen sich die Figuren und ihre Welt weniger als „aus Fleisch und Blut“, denn als aussagekräftige Modelle erfahren, sowohl in Wiebels Text als auch in Salehpours verspielter Inszenierung. Wie das von der frühjugendlichen Zielgruppe aufgenommen wird, die in der Premiere nicht repräsentativ vertreten sein konnte, wird sich zeigen müssen.