Foto: Ensembleszene mit (v.l.n.r.): Dori Antrie, Henry Morales (bei der Premiere erkrankt), Agnes Lampkin, Sophia Hankings-Evans, Anna Polke, Julius Janosch Schulte © Katrin Ribbe
Text:Andreas Falentin, am 12. Februar 2022
90 Minuten Playback-Theater. 90 Minuten lang erträgt das Publikum eine Collage des Horrors, von Tino Chrupallas Logo-Interview bis hin zu Disneys „König der Löwen“ mit einer monströsen „Podiumsdiskussion“ in der Mitte, wo in prasselnden Zitaten, und meistens mit regionalem Dialekt, Liebe zur Kultur behauptet und im selben Atemzug kulturelle Aneignung jeder Art als natürliches Recht gesehen wird. Da schluckt man dann schon, zumal der Playback-Dialog durch gesichtsneutralisierende Masken im Susanne-Kennedy-Stil die Ignoranz der Sprechenden gnadenlos ins Zentrum rückt.
Der Karneval als Zielscheibe und Rahmen
Und natürlich ist der hier vor allem in Köln verortete Karneval als Zielscheibe und Rahmen durchaus eine dankbare Wahl für die Untersuchung und Anprangerung von als rassistisch wahrnehmbaren Rücksichtslosigkeiten und Exklusionsmechanismen. Die Bühne von Carlo Siegfried ist dafür ein toller Ort mit ihrem leicht gekrümmten Wall aus Industrie-Bierfässern. Wenn dieser zur Seite fährt, erscheint ein faszinierendes Gebilde auf der Drehbühne, das Saalwand sein kann, Showtreppe und gläsernes Gefängnis, und viel Raum lässt für die kraftvollen, lebendig erfüllten Choreographien von Joana Tischkau, die das Projekt auch aufgesetzt hat. Ihre Inszenierung gibt jedoch teilweise Rätsel auf. Was etwa ist mit der Figur von Anna Polke gemeint, die oft neben oder hinter dem hauptsächlich von People of Colour gebildetem, vorzüglichen Ensemble zu stehen hat und dabei immer eine große Uhr mit sich führt. Die pünktliche, kontrollsichtige Deutsche, die sich ausschließt? Einfach die, die nicht mitspielen darf? Der andere optisch kenntliche Außenseiter ist der als eine Art Albino zurechtgemachte Julius Janosch Schulte, der immer wieder auf den jungen Löwen aus dem Disney-Film zurückgeworfen wird und im Lauf des Abends eine Art Assimilation durchläuft.
Seine Kostüme sind eine Augenweide, wie überhaupt die Entwürfe von Mascha Milena Bischoff bestechen – durch ihre Farbenfreude, ihre Vielfalt und vor allem ihre schiere Menge. Aber am Kostümbild zeigen sich auch dramaturgische Unschärfen. So sehen die Clowns zu Beginn viel zu geschmackvoll aus, viel zu sehr nach Kunst, nach Zirkus statt Karneval, sozusagen zu wenig abgestanden. Ist Karneval nicht auch immer Herdentrieb? Warum soll in Köln sonst ein Rosenmontagszug im Fußballstadion stattfinden?
Geschmackvolle Loop-Schleifen
In stärkerem Maße befremden die musikalischen Arrangements von Frieder Blume, bei denen überdies (zu) selten das Tempo variiert wird. Die musikalische Gestaltung folgt in keiner Weise dem im Umgang mit den Texten vorherrschenden Prinzip der entlarvenden Bloßstellung. Schlager wie das „knallrote Gummiboot“ oder „Ein bisschen Spaß muss sein“ werden fragmentiert und, versehen mit Beats und zeitgemäßem Sound, in geschmackvolle Loop-Schleifen gelegt. Die durch wirkungsbewusste musikalische Simplizität erzeugte, enthemmende (Un-)Bekömmlichkeit dieser Lieder, die ja ein wesentliches Element des Massenphänomens Karneval ist, wird bewusst nicht freigelegt. So findet der verstehbare Angriff akustisch keine sinnliche Unterfütterung, funktioniert die Musik eher als ausdrucksneutrales Mittel der Distanz – oder geht es hier um ein ironisch-grimmiges Statement zum Thema „Kulturelle Aneignung“?
So bleibt es bei momentweiser Erschütterung. Der Zuschauer, die Zuschauerin, die sich nicht als Anhängerin oder Anhänger des Karnevals begreift, mag bestätigend mit dem Kopf nicken, auch Bedrängnisse wahrnehmen, mit denen er oder sie vorher nicht konfrontiert war. Aber reicht das für einen Theaterabend? Und wie mögen sich die wenigen Menschen gefühlt haben, die kostümiert ins Theater kamen, einer Werbung des Hauses folgend, dass es – diesen – „Karneval“ dieses Jahr ausschließlich in Oberhausen gebe?
Offen wütend gerät das Schlussbild: „Jecken raus!“ wird auf die Bierfass-Wand projiziert. Das ist einerseits natürlich ein konsequentes Ende dieses in vielen Komponenten brillanten Theaters der Haltung und Wertung. Andererseits: Mach kaputt, was dich kaputt macht? Schließe aus, was dich ausschließt? Kennen wir das nicht zu gut? Tut nicht, auch wenn das Thema relevant, die Haltung wichtig und nachvollziehbar ist, vor allem Verständigung not? Auch und gerade auf der Theaterbühne?