Foto: Ingela Brimberg (l.) und Sara jakubiak als Elektra und Chrysothemis © Carole Parodi
Text:Klaus Kalchschmid, am 26. Januar 2022
Was hatte man sich auf diesen Abend gefreut! Ulrich Rasches Inszenierung von Hugo von Hofmannsthals „Elektra“ am Münchner Residenztheater noch in guter Erinnerung, war die Spannung groß, wie dieser Formalist und kühle Expressionist die Vertonung von Richard Strauss nach Hofmannsthal im selben Bühnenbild, das auch von Rasche stammt, in Genf inszenieren würde. Um es vorweg zu nehmen: Schauspieler können, während sie konzentriert wie in München Büchner („Woyzeck“), Schiller („Die Räuber“) oder eben Hofmannsthal sprechen, sogar manchmal chorisch skandieren, das gleichförmige, angespannte Gehen oder Schreiten zu suggestiver Musik in maschinenähnlichen Bühnenwelten mit (Körper-)Spannung füllen. Trotz der Monotonie der Bewegung vibriert jede Muskelfaser, entsteht beim Zuschauen ein Sog, wird jede kleine Abweichung der Bewegung oder eine Geste zum Ereignis. Gerade bei der „Elektra“ Hofmannsthals fühlte man sich da gar an antikes, archaisches Theater erinnert.
Doch die Oper von Strauss gibt anderes vor. Der Text ist in komplexen, manchmal freitonalen Gesang verwandelt, den man bei Elektra oder Chrysothemis dank hoher Tessitura kaum mehr versteht, dazu ein hochexpressives Orchester, das alles ist, aber nicht metrisch gleichförmig. Daraus muss nun Bewegung oder Stillstand, Furor oder Verhaltenheit entwickelt werden, denn es ist die Musik, die den Takt vorgibt, die Bewegung, den Ausdruck.
Starres Bewegungskonzept
Doch Rasche kann nicht anders: Zusammen mit Co-Regisseur Denis Krauss und den beiden Choreographen Jonathan Heck und Yannik Stöbener bleibt es beim starren Bewegungs-Konzept, das die Sängerinnen und Sänger, manchmal wohl schier verzweifelt, versuchen, mitzutragen und umzusetzen. Doch der singende Körper wehrt sich immer wieder und manchmal scheint auch Rasche einzusehen, dass Stillstand gefordert ist und raumgreifende Gesten. Oft aber wird einfach die regelmäßige Bewegung aufgeweicht, manchmal nur durch eine kleine Verzögerung und dennoch kommt alles aus dem Tritt. Wird die stereotype Bewegung nicht rhythmisch respektive metrisch exakt ausgeführt und mit innerer Muskelspannung ausgefüllt, bleibt eine leere Hülle zurück.
Dass Männer wie Frauen fast identisch unisex schwarz gekleidet sind, sich im Bühnenlicht noch nicht mal in Nuancen unterscheiden, war wahrscheinlich eine Flucht nach vorn (Kostüme: Sara Schwartz, Romy Springsguth), zugleich aber ein Bärendienst für das ganze Vorhaben. Doch das ist noch nicht ausschlaggebend für sein Scheitern. Denn in den großen Auseinandersetzungen Elektra-Klytemnästra und Elektra-Chrysothemis findet einfach keine Interaktion statt. Bei der Begegnung mit Orest (Károly Szemerédy) ist Elektra buchstäblich im großen, beweglichen Kubus hinter Gittern gefangen, während der Bruder meist von ihr weg und leider reichlich diffus singt, während er vorne auf der doppelten Drehscheibe in Zeitlupe geht. Ingela Brimberg beginnt als Elektra noch sehr verhalten vorsichtig und steigert sich dann, während Sara Jakubiak als Chrysothemis stets jugendlich- dramatischen Glanz besitzt. Beide ähneln sich im Timbre durchaus, was in anderem szenischen Zusammenhang vielleicht reizvoll gewesen wäre, hier aber zusätzlich verwirrt, zumal beide fast wie mit angezogener Handbremse singen. Tanja Ariane Baumgartner besitzt als Klytämnestra große sängerische Intensität, findet als Figur auf der Bühne aber einfach nicht statt, ist fast zur singenden Skulptur degradiert. Wie anders und insgesamt viel überzeugender konnte man sie in derselben Partie unter der Regie von Krzysztof Warlikowski in den letzten beiden Jahren bei den Salzburger Festspielen erleben.
Ein exzellenter Charakter- und Spiel-Tenor wie Michael Laurenz als Ägisth ist in seiner kurzen Szene mit Elektra der einzige, der Körperspannung für das rituelle Gehen und die fürs Singen in eins setzen kann. Und für wenige Minuten ahnt man, was vielleicht innerhalb des starren Konzepts doch möglich gewesen wäre und sich hoffentlich in den folgenden Vorstellungen noch einspielt. Auch die einleitende Szene der Mädge bekommt im uniformen Schreiten der identisch aussehenden und sich im Gänsemarsch gegen die Drehbühne um den Kubus bewegenden Frauen einen gewissen Reiz. Aber schon hier sieht man, wie es ablenkt und die Wirkung beschädigt, wenn nur eine der fünf Mägde plus Choristinnen und Statistinnen leicht aus dem Tritt gerät.
Lyrisch, nicht archaisch
Mit dem Orchestre de la Suisse Romande setzt Jonathan Nott alles auf weiche Konturen, lässt lyrisch und durchsichtig spielen, wo immer das möglich ist. Das durchaus Archaische, das die Szene ja auch charakterisiert, findet also auch instrumental nicht statt. Und so passiert das Schlimmste, was bei diesem Stoff, dieser Musik und diesem Text passieren kann: Es lässt kalt, es berührt nicht eine Sekunde. Und so ist die Aufführung eine Lehrstunde darüber, was gute Opernregie ausmacht und wie wichtig eine Kongruenz zwischen Graben und Bühne oder zumindest ein präzises Spannungsverhältnis zwischen den Ebenen in der Oper ist.