Dietze gelingt diese stimmige Akzentuierung durch seine so behutsame wie konzentrierte Personenführung. Hier läuft alles organisch, aber nichts kleinteilig realistisch ab – abgesehen von den Mechaniken des Todestrakts und der Hinrichtung, die so durchaus als Fanal gegen die Todesstrafe gelesen werden können. Christian Binz hat einen schlichten Raum mit grauen Wänden erfunden, die fast bis ins Publikum reichen. Gelegentlich wird an der Rückwand eine Galerie vor schwarzem Hintergrund sichtbar. Vor allem durch das formidable Licht von Julia Kaindl entstehen Spielräume in diesem tristen Setting.
Virtuose Holzbläsereinsätze, wucherndes Unkraut
Die Konzentration des Spiels öffnet die Ohren für Heggies Musik, die nicht neu oder unerhört tönt, aber Eigenständigkeit besitzt. Obwohl das Staatsorchester Rheinische Philharmonie auf die Hinterbühne „verbannt“ ist, ist es einer der Stars des Abends. Karsten Huschke lässt überaus delikat musizieren. Man hört die Virtuosität der solistischen Holzbläsereinsätze und die Eigenheiten dieser Musik und die unzähligen, manchmal absurd anmutenden kreuz-und-quer-Verbindungen, die an diesem Abend wie Unkraut in die beschriebene Leere hineinzuwuchern scheinen. Linien inspiriert von und Anspielungen an Jazz, Gospel und Rock’n Roll tauchen aus dieser Musik auf und verschwinden wieder in ihr. Die beiden großen Ensembleszenen mit Chor, der Zusammenbruch Helens vor der Pause und das „Vater unser“ vor der Hinrichtung entfalten eine geradezu chaotische Klangwucht, kreiseln wild um sich selbst und ziehen doch die Schlinge zu, werden geradezu zum Sinnbild für die inszenierte Leere.
Was wiederum damit zu tun hat, dass die Sängerinnen und Sänger die Leidenschaft und Lebendigkeit mitbringen, auf die Dietzes Inszenierungsansatz angewiesen ist. Mit schlankem, individuell timbrierten Mezzo und großer Ausstrahlung ist Danielle Rohr eine stücktragende Helen. Andrew Finden gibt den Mörder mit fest gefügtem, aber nicht unflexiblem Bariton und großer physischer Verdrängung. Monica Mascus spielt und singt die Hilflosigkeit der Mutter rückhaltlos aus. Alle Nebenrollen sind stimmig oder, wie Helens Freundin Rose mit Hana Lee oder der Vater der toten jungen Frau mit James Bobby, außergewöhnlich besetzt.
Der dem Stück oft unterstellte Kitschverdacht erweist sich in Koblenz als vollkommen unbegründet. Im kleinen und gut gefüllten Koblenzer Theater hört und sieht man tatsächlich große Oper für das 21. Jahrhundert.