Foto: Meininger Ensemble in "La Bohème" © Xiomara Bender
Text:Roland H. Dippel, am 11. Dezember 2021
Am Ende hat sie ihren dreidimensionalen Muff: Die schwindsüchtige Mimì stirbt auf der Meininger Bühne im Stehen. Ihr Geliebter Rodolfo hält für diese Schlüsselszene des melomanischen Musiktheaters ungewöhnlich großen Abstand – aber nicht wegen der Pandemie. Längst schwebt ein typisches Schädelbild von Markus Lüpertz (geb. 1941) über dem Geschehen. Drei Jahre nach seiner „Parsifal“-Ausstattung im Nationaltheater München bescherte das Meininger Staatstheater einem der bedeutendsten lebenden Künstler die Möglichkeit zum Regiedebüt. Nach Lüpertz‘ eigener Prioritäten-Klimax musste es die an großen Häusern hängengebliebene Künstler- und Tuberkulose-Oper „La Bohème“ von Puccini werden. Lüppertz ist gebürtiger Böhme, fand und erfand sich nach 1960 in der Bohème Westberlins und deshalb liegt ihm gerade dieses Werk am Herzen.
Ganz so ein Bollwerk von in (Bühnen-)Kunst materialisierter Poesie gegen die politisierten Kulturevent-Strukturen, wie von Lüpertz behauptet, wurde der Abend schließlich doch nicht. Der Chor (gute Leistung unter Manuel Bethe) steht im Café-Momus-Bild hinten auf einem Podest und bewegt sich nicht von der Stelle – mit roten Hauben, grünen Kittel, schwarzen Ärmel. Zwei wichtige Kollaborateure von Theaterseite hatte Lüpertz als Gehilfen: Ruth Groß war die Koordinatorin für die Transformation der zweidimensionalen Kunstwerke zum bespielbaren Gesamtkunstwerk. Als Lüpertz‘ „Dolmetscher“ in die ihm unbekannte Sprache der Sänger fungierte Maximilian Eisenacher. Dieser organisierte die burlesken Bewegungskapriolen in den zwei ersten heiteren und die angemessene Erstarrung in den beiden tragischen Bildern nach Murgers Roman „Szenen aus dem (Pariser) Künstlerleben“.
In Meiningen war diese Premiere von Puccinis größtem Opernerfolg, den man gemeinhin mit Schneetreiben und ärmlicher Kleidung assoziiert, Anlass zum Riesenaufmarsch von Kunstenthusiasten aus ganz Mitteleuropa. Man feierte das Kunstprodukt als Event des Eventgegners Lüpertz, der parallel im Meininger Theatermuseum den alten Originaldekorationen der Brüder Brückner zu „Maria Stuart“ mit fünf Objekten den eigenen Stempel aufdrückt. Der Kleinstadt Meiningen mit dem großen Theater, das zugleich deren drittgrößter Arbeitgeber ist, und dem noch immer zu wenig bekannten schönen Umland tut der Rummel gut. In der Premiere waren mehr Menschen als auf dem dortigen Weihnachtsmarkt.
Von Kindertheater zur Bewegungsstille
Lüpertz kleidete die Künstlerfiguren mit Streifenhosen, Malerkappen und Pagenfrisuren so, als wollten sie gleich zu Künstlerbällen bei Kroll oder im Alten Schwabing. Der bekanntermaßen sehr selbstbewusst und keineswegs konfliktscheu agierende Künstler hat auf die Kunstform Oper einen analytisch unbedarften und sehr subjektiv gefärbten Blick. Zum Beispiel ist die proletarische Näherin Mimì für Lüpertz ein „bürgerliches Mädchen“, das sich den Risiken des Künstlerlebens aussetzt. Bei Lüpertz steht der Dichter Rodolfo im Mittelpunkt als jemand, für den das physische Leben hinter der Kunst und Kunstproduktion immer die zweite Geige spielt. Bis zum letzten Akkordschrei ist Lüpertz‘ Inszenierung auch eine Klage gegen das heutige „populäre Musiktheater, das (fast immer) aussieht wie eine ‚Tatort‘-Inszenierung und in dem die Polizisten singen statt sprechen“, so der Künstler in einem Gespräch vor der Premiere.
In seinem Unmut gegen die von ihm festgestellte Phantasie- und Poesielosigkeit des Opern-Mainsteams lässt sich Lüpertz demzufolge von der Musik und deren Atmosphäre treiben – aus der Sicht des Malers. Das hält er konsequent durch vom Zwischenvorhang mit Gesichtern über die auf den Boden gemalten Fenster, die schwebenden Schädel und die verschieb-, aber nicht nutzbaren Möbel. In solchen Materialien ereignet sich erst ein quicklebendiges und quietschfideles Kindertheater der überzogenen Art, später Theater der konzentrierenden Bewegungsstille. Das im ersten Teil recht flächige Licht fällt zur tragischen Hälfte in eine andere, fast mystische Aura mit dunkleren Reliefs. So reagiert Lüpertz auf den dramaturgischen Bruch in der Stückmitte.
Auch für geübte Hörer spannend
Einigen Szenen und Momenten bekommt die choreographische Entschleunigung sogar erstaunlich gut. Vor allem der hier voll rothaarige Musetta, die statt des trotzköpfigen Rabaukentums, mit dem man diese Partie oft verkleistert, in ihren Soli intensive Gänge hat. Monika Reinhard veredelt den berühmten Walzer zur eindrucksvollen Präsentation der hohen Kunst von mindestens 20 Arten souveräner Vibrati in nur 150 Sekunden. Ihr kurzes Gebet am Ende ist keine heruntergespulte Litanei wie sonst, sondern Silbe um Silbe bewusst modelliert. Durch diese intensive und dabei klare Art des Singens zeichnet sich das ganze Ensemble aus. Daran merkte man auch, dass dieses zutiefst dankbar war für die motorischen Freiheiten, die der jeden Tag zwischen den Proben im Malsaal Höchsteinsätze leistende Regie-Debütant ihnen gewährte. Auch Raphael Hering (Benoit), Stan Meus (Parpingnol kommt zurück als Todesbote) und Thomas Lüllig (Alcindoro) wirken auf dem künstlerischen Laufsteg rundum gut. Die Meininger Hofkapelle unter dem an Glanz, leicht genommenen Schärfen und generell eine transparente Sangbarkeit kultivierenden Philippe Bach zauberte nach Noten von Puccini. Das war neben genuiner Italianità auch geatmeter Impressionismus und pointierte Dramatik ohne Schwere. „La Bohème“ erklang mit einem idealen Quartett der Hauptpartien so gelöst und frei wie lange nicht.
Keine der Stimmen war nur schön. Sie alle hatten jenes gewisse Etwas im Ausdruck, der viel gespielte Werke auch für geübte Hörer interessant macht. Alex Kim ist ein hinreißender Dichter Rodolfo. Eine Stimme von extrovertierter, nie durch Überdruck gefährdeter Helligkeit. Kräftig und immer mühelos nimmt er die großen Momente ohne Schwergewichte, obwohl er die Reserven dafür hätte. Und er weiß seine Stimme nach den ersten Leistungsbeweisen in der Arie vom „eiskalten Händchen“ mit diplomatischer Attraktivität zu führen. Auf ebenbürtiger Höhe singt Deniz Yetim die arme Mimì, deren erste Schmerzensrufe sie so lange hinauszögert wie möglich. Die innigen Flirts beherrscht Yetim und auch die Klagetöne, in denen sie wie Alex Kim zu einem inneren, und apart changierenden Leuchten findet. Julian Younjin Kim als Marcello steckt dahinter nicht zurück, führt einen charakterstarken und schönen Bariton ins Rennen. Minimal beeinträchtigt sind die anderen Figuren, auch weil Lüpertz seinen Co-Regisseur Eisenacher beauftragte, sie wie aufgescheuchte Hampelmänner durch die Bilderspielwiese zu jagen: Johannes Mooser bleibt also aufgekratzt und Selcuk Hakan Tirasoglu ohne inneren Bezug zum Solo vom alten Mantel.
Als Abnabelungsprozess von der Eventkultur mag Lüpertz‘, trotz vereinzelter Szenen mit poetischem Imponiergehabe, nicht ganz durchgehen. Aber der Wunsch von Intendant Jens Neundorff von Enzberg nach einem strapazierfähigen, robusten und über Jahre erfolgsfähigen Repertoirestück dürfte sich erfüllt haben. Und später ab mit der Ausstattung in das Meininger Theatermuseum als Beispiel für einen bedeutenden Künstler, der sich gegen das monotone Abspulen der immer gleichen Diskursthemen mit einem eigenwilligen Poesie-Programm zu Wort meldete. Das unterstreicht Lüpertz mit seinen an Metaphern reichen Wörterseen in einer beeindruckenden Kompilation von Goethe und Ringelnatz. Diese hatte er für die Umbaupausen aufnehmen lassen. Trotzdem war der Applaus für die Sternstunde des eigenen Ensembles noch einen Kick heftiger als für die szenisch-dekorative Gesamtleitung.