Foto: Meet'n Greet mit Schneewitchen (Julia Meier, Mitte) und den sieben Zwergen (v.l.n.r.: Nora Krohm, Tim Alberti, Aline Blum, Stefan Walz, Kevin Wilke, Thomas Braus) © Uwe Schinkel
Text:Andreas Falentin, am 26. November 2021
Die sieben Zwerge sind gar nicht klein. Sie nennen sich so, weil sie aus Zwergisch Gladbach stammen und lange in einem Zwergwerk gearbeitet haben. Als das geschlossen hat und keiner sich um sie kümmerte, haben sie beschlossen, eine Tourneetheatertruppe zu gründen, um nicht verloren zu gehen. Sie inszenieren Märchen, haben aber da das Problem, dass keiner freiwillig den Prinzen spielen will, weil diese Rolle so langweilig ist. Schneewittchen platzt auf der Flucht vor dem Jäger in eine „Rotkäppchen“-Probe, eins der wenigen Märchen, die komplett ohne Prinz auskommen.
Das Setting macht nostalgisch. Es trug mich knapp 50 Jahre zurück, in eine Kindheit, wo „Weihnachtsmärchen“ in weiten Teilen des Landes noch als Synonym für „Kindertheater“ verwendet wurde. Es gab ein Märchen von Grimm, manchmal auch von Hauff oder Andersen, was mit professioneller Klangfülle ausagiert wurde. Ins Langzeitgedächtnis gruben sich aber dazu erfundene skurrile Nebenfiguren wie die patente Köchin, der gierige Minister, der geschwätzige Nachbar oder die Hexe, die nicht gut darin ist, böse zu sein.
Möglicherweise ist dem Regisseur und Textbearbeiter Henner Kallmeyer, Jahrgang 1974, auch aus seiner Kindheit die Inspiration zugeflogen für dieses wunderbare „Schneewittchen“. Er erzählt die Geschichte samt böser Königin und Spiegel, Herz und Lunge, Giftkamm und Giftapfel durchaus in traditioneller Gnadenlosigkeit, zieht aber jede Menge distanzierende Reflexionsebenen und Comic Reliefs ein. Immer wieder steigen einzelne Mitwirkende aus ihren Rollen aus, um die Handlung in Frage zu stellen, es gibt Running Gags und Slapstickelemente. Und es gibt Musik. Ein aus Mitgliedern des Sinfonieorchesters Wuppertal gebildetes Streichquartett sorgt akustisch für Atmosphäre, versprüht mal romantische Innigkeit, mal Musical-Glanz, mal sanfte Ironie. Und es gibt schmissige Gitarrenlieder, für die Stefan Walz, der Darsteller des Zwergs Klausi, und die Dramaturgin Elisabeth Wahle verantwortlich zeichnen. Und in der Mitte der 70 Minuten kurzen Vorstellung überrascht Schneewittchen-Darstellerin Julia Meier mit der fast zärtlichen Parodie auf einen großen Disney-Musical-Song in makellosem Belting-Sound.
Energie durch Mehrspartigkeit
Dazu kommt, dass dieses „Schneewittchen“ eine spartenübergreifende Arbeit ist. Das Schauspiel hat sich hier nicht nur mit dem Sinfonieorchester zusammengetan, sondern brachte auch sein Inklusives Schauspielstudio mit. Flora Li etwa (auch, in Kevin Staples‘ sehr sinnlichen Videos als Spiegel besetzt) ist eine Erzählerin im Rollstuhl und das sechsköpfige Zwergenensemble – Nora Krohm spielt Zwillinge, von denen immer nur eine gerade da ist – ist sozusagen paritätisch besetzt, mit Menschen mit Behinderung und ohne. Und diese Tatsache schenkt der Aufführung sehr viel Kraft, weil kaum Routine aufkommt. Weil Energieströme oft vollkommen anders gelenkt werden, als man es gewohnt ist. Und natürlich, weil wunderbar aufeinander eingegangen, miteinander gespielt wird.
Großartig etwa die Trockenheit, mit der Alina Blum als intellektueller Zwerg Bombi ihre Pointen serviert. Sehr klein von Wuchs und in roter Kapuzenpellerine entwickelt sie eine ungewöhnlich raumgreifende Bühnenpräsenz, was in andere Hinsicht für Tim Alberti gilt. Er spielt den Zwerg Jamie, der immer die Prinzessinnen spielt, weil er der einzige in der Zwergentruppe ist, der über ein dafür geeignetes Kleid verfügt. Sein hemmungsloser Enthusiasmus flutet den Raum derart mit Energie, dass man sich ihm kaum entziehen kann.
Zusammenspiel aller Komponenten
Das alles funktioniert nur, weil die Komponenten stimmen. Weil die Kostüme von Silke Rekort wunderbar schrill sind, sich aber auch mit den Märchenkonventionen befassen und – vor allem – zusammenpassen. Weil Henner Kallmeyer seine Spielerinnen und Spieler behutsam führt und es doch immer wieder richtig krachen lässt. Und weil Franziska Gebhardt im Barmer Haus der Jugend so behutsam einen Spielraum entstehen lässt, dass eine Atmosphäre der Intimität zwischen Bühne und Publikum entstehen kann.
Umwerfend dann das Ende: Schauspielintendant, vorher als lakonischer, überall einschlafender Zwerg Thomsti dabei, kommt per Knalleffekt als Prinz und Luftfahrtpionier auf die Bühne, verzaubert das Publikum mit Charme und Brillanz und weckt das schöne Schneewittchen auf. Das heiratet aber lieber den Regisseur der Truppe (Kevin Wilke). Für den Prinzen bleibt nur Jamie, natürlich, weil der als einziger ein Prinzessinnenkleid hat. Und dann gibt es ja auch noch die böse Königin (Yulia Yànez Schmidt). Ihr „Urteil“ aus dem Märchen wird besprochen und abgemildert, sozusagen sinnstiftend: dauerhafte Arbeit als Stimme des Spiegels anstelle von Tod durch Tanz in glühenden Schuhen.
Lied. Ende. Applaus. Tolle 70 Minuten. Wie viele Menschen werden sie erleben dürfen? Als ich „Schneewittchen“ verlasse, schneit es in Wuppertal, nein, schneeregnet es. Schön eigentlich.