Foto: Musiktheater mit Muscheln und Maultrommel: (v.l.n.r.) Fabio Tricomi, David Josph Yacus und Mauro Morini © Thomas Kost
Text:Andreas Falentin, am 15. November 2021
Ich habe selten einen derart packenden und dennoch empathischen Zweikampf auf einer Bühne gesehen. Fabio Tricomi steht mit seinem Tamburin mitten auf der Bühne – dem Altarraum der Kreuzkirche in Herne – und macht sich mit seinem Instrument warm wie ein Boxer mit seinen Fäusten. Von rechts kommt Alfio Antico, grimmigen Gesichts und mit einem etwas größeren Instrument. Es scheint, als wolle er direkt ins „Duell“ gehen, dann lächelt er und reicht seinem Kontrahenten die Hand. Und das Spiel beginnt.
Beide Tamburinspieler treiben sich improvisatorisch zu musikalischen Höchstleistungen. Mal scheinen sie gegeneinander zu arbeiten, dann nähern sie sich einander an, sind beieinander, musizieren miteinander, trennen sich wieder, spielen die Kollegen auf der Bühne an, als wollten sie Wahlkampf betreiben, verbinden sich noch einmal zu einer letzten musikalischen Eskalation und enden in wildem Trommelwirbel, bei dem, ungeplantes Ausrufezeichen zum Schluss, Fabio Tricomis Tamburinfell reißt.
Natürlich sind wir, eigentlich, im Konzert, nicht im Theater. „Der Klang Arkadiens“, versehen mit dem Untertitel „Vokal- und Instrumentalmusik zwischen antiken Mythen und europäischer Gesangskultur“ ist ein für eine Konzerttournee entwickeltes, gemeinsames Projekt der Alte-Musik-Bläser-Band La Pifarescha und des Trommelbauers, Gesangs- und Tamburinvirtuosen Alfio Antico. Anlässlich der Tage Alter Musik in Herne wurde es vom WDR für den Rundfunk mitgeschnitten und live ausgestrahlt.
Enthierarchisierte Bühnenkunst
Dabei ist „Der Klang Arkadiens“ reines, intensives, vor allem hochinnovatives und -professionelles Musiktheater. Die Lenkung der Ströme theatralischer Energien zwischen den einzelnen Akteuren wie zwischen Bühne und Publikum geschieht mit fast bestürzend leichter Hand, zumal kein Regisseur oder Dirigent an der Aufführung beteiligt ist. Wir haben enthierarchisierte Bühnenkunst vor uns. Jeder macht sein eigenes Ding und ist doch immer bei den anderen, trägt Musik und Spiel auch durch intensives Zuhören.
Zu Beginn sitzen die fünf Musiker von La Pifarescha in schwarzer Konzertkleidung auf der Bühne. Alfio Antico kommt im langen weißen Hemd und auf Strumpfsocken. Er ist Pan, der Hirtengott. Er „findet“ ein kleines, hölzernes Rohr und erfindet die Flöte, bereits hier in deutlicher, inniger Begegnung mit La Pifarescha. Dies wird sich über 90 Minuten nicht ändern. Alfio Antico wird dionysische Besessenheit trommeln, wie tot auf den Boden fallen und „auferstehen“ mit vom Tamburin verhüllten Gesicht, eine anonyme Seele. Dann wird er auf der Kanzel mit archaischem Gesang, urwüchsigen Schreien und natürlich dem Tamburin den Tod überwinden. Er wird mit einem schlichten Besenstiel eine sanfte, elegante und in keinem Moment harmlose Choreographie aufführen, eine Art Tanz durch die Kulturgeschichte, eine wortlose Erzählung, wie aus der archaischen Freude am Spiel der zielgerichtete Gebrauch einer Waffe entsteht. Zwischendurch wird er sich immer wieder mal einfach ins Ensemble einreihen. Und am Ende steht der beschriebene Kampf.
Eigenwillige Bildkompositionen
La Pifarescha, natürlich auch musikalische Archäologen nicht nur an diesem Abend, spielen dazu Musik aus dem 15. und 16. Jahrhundert von Komponisten wie Pere Oriola oder Antonio Caprioli, vor allem aber in alten Handschriften zwischen Berlin und Florenz, Uppsala und Cluj-Napoca gefundene anonyme Musikstücke. Bei der Interpretation steht immer die Interaktion im Mittelpunkt, das Miteinander des Musizierens, manchmal auch der innovative Umgang mit Klangfarben, der immer wieder mit verblüffenden und sehr eigenwilligen Bildkompositionen einhergeht. Fabio Tricomi ist oft Zentrum des Klanges, mit der virtuos geradezu georgelten Maultrommel oder dem wie ein Urtier klingenden sizilianischen Dudelsack; Stefano Vezzani ist ein geradezu unerhörter Schalmei-Virtuose, ist sich aber auch nicht zu schade, Klang und Szene mit Einhandtrommel und -flöte zu bereichern und Gabriele Miracle Bragantini wertet das Hackbrett und sogar den Triangel zu Solo-Instrumenten auf.
Für die Spezialeffekte sind aber vor allem David Joseph Yacus und Mauro Morini zuständig. Ihr Renaissance-Posaunenklang ist extrem weich und birst doch vor Energie. Was sie für ein Klangspektrum aus Muscheln (sic!!) entbinden, ist unvorstellbar. Wie sie damit mit Alfio Antico interagieren und einen selbstverständlichen Übergang zum nächsten Szenenblock schaffen, berührt. Und dann kommen sie mit Businen hinter dem Altar hervor, mindestens zweieinhalb Meter langen schmalen Metallrohren, die in einem kleinen Klangtrichter auslaufen, und bringen damit runde, kraftvolle, eigentümlich stille Töne hervor, ein ideales Klangfundament für Stefano Vezzanis Schalmeientänze. Der Applaus möchte nicht enden.
Überhaupt waren die diesjährigen Tage Alter Musik etwas sehr Besonderes – und nicht nur, weil sie im letzten Jahr aus bekannten Gründen ausfallen mussten und alle ursprünglich gebuchten Künstlerinnen und Künstler trotz der Verschiebung um ein Jahr wieder dabei waren. Die Mischung aus Forschergeist und Interaktionslust, untereinander wie mit dem Publikum, ließ den Funken in jeder Veranstaltung überspringen, ob in den konzertanten Opernaufführungen (Hasses „Enea in Caonia“ mit einem brillanten italienischen Ensemble und Purcells „Fairy Queen“ mit L’arte desl mondo und dem WDR Rundfunkchor); ob beim Eröffnungskonzert, bei dem das französische Vokalensemble La Tempête alte und zeitgenössische Musik nebeneinander stellte oder dem Konzert von Fahmi Alqhai und seiner Gamben-Band Accademia del piacere, wo sinnlich vorgeführt wurde, wie überbordende spanische Volkstänze in recht kurzer Zeit zu höfischer französischer Musik geronnen sind – und das zu nächtlicher Stunde in der Künstlerzeche in Herne-Crange.
Überall war der Besuch gut, wurde vor allem miteinander und mit der Pandemie vorbildlich umgegangen. Man sollte nächstes Jahr wieder nach Herne schauen, im November!