Foto: Nina Siewert und das Stuttgarter Ensemble in "Am Ende Licht" © Katrin Ribbe
Text:Manfred Jahnke, am 14. November 2021
Christine stirbt am 6. Februar 2017. Sie, immer wieder alkoholsüchtig, war inzwischen seit neun Monate trocken. Nun aber fällt sie bei der Suche nach einer Flasche Wodka im Supermarkt tot um: ein Blutgerinnsel, genauer: eine Subarachnoidalblutung im Gehirn. Sie steht dabei neben sich, beobachtet sich, kann die Umtauschwerte des englischen Pfunds in andere Währungen auswendig daher sagen. Aber mehr noch beobachtet sie im Zwischen von Leben und Tod von außen das Treiben ihres Mannes und ihrer drei Kinder. Sie besucht gar die jüngste, Ashe, die vor ein paar Monaten einen Selbstmordversuch unternommen hat. Mit „Am Ende Licht“ hat Simon Stephens das Sozio-Psychogram einer kaputten Familie entworfen, die in verschiedenen Orten in Nordengland lebt und das Elmar Goerden am Stuttgarter Schauspiel wunderbar umsetzt. Wie immer entfaltet er seine Geschichten in einem engen regionalen Rahmen, aber die Handlung weist wieder weit über den lokalen Bezug hinaus – als eine Geschichte über eine Mittelschichtsfamilie nahe am sozialen Absturz, in der jede und jeder nur an sich selbst denkt.
Stephens liefert wieder wunderbares Schauspielerfutter: Sylvana Krappatsch als Christine spielt das Staunen darüber aus, was ihr da widerfährt, sehr souverän dabei in ihrem türkisfarbenen Mantel (Kostüme: Lydia Kirchleitner). Vom Bühnenrand her beobachtet sie, was ihre Familie so treibt, kurz nach ihrem Tod. Ihr dickleibiger Mann Bernard, von Klaus Rodewald jovial vorgeführt, hat sich gerade mit Michaela (Marietta Meguid) und Emma (Therese Dörr) in einem Hotel mit Himmelbett zu einem Liebesspiel zu Dritt verabredet. Die älteste Tochter und Lehrerin Jess, von Katharina Hauter mit vielen Facetten von zarter Liebesbedürftigkeit bis hin zu herber Ansage dargestellt, verliebt sich nach einem One-Night-Stand in Michael (Sebastian Röhrle). Der Sohn Steven, Jurastudent im zweiten Semester, ist in Andy (Marco Massafra) verknallt. Jannik Mühlenweg zeigt ihn in seiner ganzen verqueren Unsicherheit. Und Nina Siewert als die jüngste Tochter Ashe, die sich langsam damit arrangiert, ihr Kind alleine aufzuziehen und die eine besonders enge Beziehung zu ihrer Mutter hatte, spielt ihre Empörung gegenüber dem Vater ihres Kindes, Joe (Peer Oscar Musinowski), groß aus.
Psychologisches Theater in Perfektion
Stephens erzählt seine Geschichten in drei Abteilungen. Am Anfang steht der Monolog der sterbenden Christine. In der Inszenierung von Elmar Goerden liegt sie zunächst am Boden vor einem großen dekorativen Bord mit weißen Glasflaschen und Karaffen, darin oben links das spiegelverkehrte Logo von Coop (Bühnenbild: Silvia Merlo & Ulf Stengl). Verschieden große Bälle (zumeist in Weiß- und Grautönen) rollen herum. Nach ihrem Monolog, der zumeist nah an der Rampe in Lichtkreisen, die sie suchen muss, stattfindet, setzt sie sich an den Rand der Bühne, wie auch die anderen Spieler, und beobachtet die zweite Abteilung, die an verschiedenen Orten unmittelbar nach dem Tod von Christine stattfinden. Dabei vermischen sich im Verlaufe der Szene die verschiedenen Ebenen: zunächst die zwischen dem Vater mit seinen zwei Liebesgespielinnen und Jess mit ihrem Lover Michael, sowie zwischen Steven und Andy. Während deren Dialoge immer mehr ineinander geschnitten werden, bleibt die Geschichte von Ashe herausgehoben für sich, zumal Christine in die Szene hineinregiert.
Das Bord mit den Flaschen verschwindet schließlich. Stattdessen markieren die Bälle unterschiedlichen Spielorte. Regen fällt und gegen Ende hin werden die Smartphones mit der Todesnachricht abgehört. Dann wird ein VW-Golf auf die Bühne geschoben, in dem Bernard die Nacht verbringt. Im abschließenden dritten Teil wird der abstrakte Raum konkret: Vor der Beerdigung treffen sich alle in der Wohnung. Nervöse Hektik beherrscht diesen Teil, fast gehen die Gesten der Trauer unter: Es ist zwar eine Solidarität unter den Geschwistern zu spüren, aber wirkliche Empathie findet nicht statt. Jede und Jeder hat mit ihren oder seinen eigenen Schwierigkeiten zu tun, dreht sich nur um sich selbst.
Elmar Goerden kann an diesem Abend seine Stärken voll verwirklichen: feine Psychogramme der Figuren, dazu ein szenisches Bildmaterial, die diese Intentionen unterstützt. Und er lässt sich Zeit – mehr als drei Stunden braucht er für seine filigranen Charakteranalysen. Das ist mit einem tollen Ensemble perfekt gemacht. Das Premierenpublikum belohnte es mit einem langen Beifallssturm, bei dem sich auch der Autor verbeugte. Ja, dieses psychologische Theater ist perfekt. Seltsam nur, dass mir beim Zuschauen immer mehr die „Rauschgiftbude“ in den Sinn kam, wie Brecht in einer seiner Schriften das bürgerliche Theater begrifflich zu fassen versuchte.