Foto: Szene aus "Unwucht" am Stuttgarter FITZ-Theater © Joachim Fleischer
Text:Manfred Jahnke, am 6. November 2021
„Unwucht“ – so ein Titel verspricht Leichtigkeit. Er erzählt aber auch davon, dass die Balance nicht stimmen könnte, dass etwas ins Eiern kommt oder dass die Welt in Schieflage gerät. Die Figurenspieler Sarah Chaudon und Florian Feisel entwickeln für diese Gedanken zwei Erzählstränge: Zunächst wird das Publikum, geleitet von einem schwarzgekleideten Mann mit Regenschirm, auf einen Walking Act vom FITZ! zur Kirche St. Maria geschickt. Über Kopfhörer hört man beim Gehen einem Dialog zu, in dem die beiden Spieler über das diskutieren, was sie eigentlich erzählen wollten: dass nämlich Florian die vier Finger beerdigen möchte, die sein verstorbener Großvater (der Eisenbahner war) verloren hat – zwei im Krieg und zwei bei einem Rangierunfall. Es geht um eine „Spiegelreise in die Vergangenheit“, auf der die alten Träume beschwört werden: vom einstigen Wunsch, Clown zu werden ebenso wie den verworfenen Gedanken mit einer Bauchrednerpuppe zu spielen.
Gegen Ende des Gangs – schon mit der Kirche St. Maria in Sichtweite – heißt es: „Sachen wiederholen sich / Und Kreise schließen sich.“Aber auch: „Alle Worten kamen aus der Vergangenheit.“ Denn mit dem Augenblick, wo vor dem Kirchenportal das heranziehende Publikum von zwei Spielern empfangen wird, herrscht Schweigen. Beide tragen rote Shirts und zwischen ihnen steht ein Eimer mit weißer Farbe. Sie malen sich gegenseitig je drei Striche auf die Vorderseite und den Rücken, schließlich über die Mundfläche: zwei traurige Clownsgerippe mit melancholischer Ausstrahlung.
Filigrane Objekte
Dieser Eindruck verstärkt sich mit Eintritt in die Kirche. An den Seitenwänden flackern Kerzen. Auf der Spielfläche stehen vier Rhönräder verschiedener Größe. Zwei tragbare Scheinwerfer bestrahlen sie, werfen große Schatten auf die Wände, auch die der Spieler sind übergroß. Das hat einen großen ästhetischen Reiz und Chaudon und Feisel lassen dem Publikum den Raum, diesen Reiz aufzunehmen.
Die vier Räder rollen im gleichmäßigen Tempo, sorgfältig von den Spielern angestupst. Im Schattenspiel wird deutlich, wie filigran die Räder gebaut sind. Allmählich aber entwickeln sich aus diesen spielerischen Abläufen immer neue schöne Bilder, die sich mit Inhalten aufladen, wie das Hamsterrad beispielsweise als Sinnbild des ewigen Kreislaufs des Lebens, als Trott, aus dem man ausbrechen möchte. Chaudon und Feisel zeigen dabei die hohe Kunst des Ausbalancierens. Das sieht leicht aus, erfordert aber höchste Konzentration. Immer neue Spielvariationen entstehen, zwischen den Rädern werden beispielsweise Seile gespannt. Dafür werden sie durch den Raum bewegt, bis sie dann am Boden einrasten. Die kleineren Räder werden danach in die großen einmontiert, darin bewegen sich die beiden Spieler tollkühn akrobatisch.
Alle Bilder, die entstehen, sind so schön, dass sie die dem Konzept zugrundeliegenden Struktur der Wiederholung, auch der Monotonie, verhüllen – als Sinnbild des Lebens als Balanceakt. Mit Objekten spielen, erzwingt auch immer, sie so zu animieren, dass das Publikum die pure Materialität vergisst: Die Räder bleiben Räder, die als abstraktes Abbild des Kreislaufes menschlicher Existenz eine tiefe philosophische Bedeutung erhalten. Sie gewinnen ein Eigenleben in diesem speziellen Subjekt-Objekt-Verhältnis. Das Material will überwunden, aber auch in seiner Eigenart respektiert werden. Diesen Doppelschritt meistern Sarah Chaudon und Florian Feisel auf atemberaubende Weise. Markus Joss hat als sogenanntes „Auge am Ende“ seinen Blick für das Timing von Handlungsabläufen genutzt, um den Wechsel zwischen dem Rollen der Räder und den Momenten der Ruhe genau zu setzen.
Eine wunderbare Performance, deren Wirkung sich noch durch die sakrale Atmosphäre des Raums erhöht. Fast will es scheinen, als ob hier, wo nicht entschieden werden kann, ob die Spieler die Räder bewegen oder die Räder die Spieler, das Spiel sich in ein spiritualistisches Ritual verwandelt.