Haus und Ensemble in „Der Platz“

Mentales Trauerspiel

Annie Ernaux: Der Platz

Theater:Theater Dortmund, Premiere:30.10.2021 (UA)Regie:Julia Wissert

Die Tochter, Erzählerin des autobiographischen Berichts „Der Platz“, hat gerade die Prüfung zur Gymnasiallehrerin bestanden, da wird ihr Vater schwer krank und stirbt zwei Monate später. Anlässlich seines Todes beschreibt sie liebevoll das Leben des Mannes, der es vom Bauernknecht zum Fabrikarbeiter und Dachdecker, schließlich zum Inhaber eines kleinen Ladens brachte; zugleich analysiert sie aus der Rolle der weiter „aufgestiegenen“ Akademikerin heraus gnadenlos sachlich die soziologischen Rollen des Vaters, seine Ängste und Beschränkungen und damit auch die Ambivalenzen im Verhältnis zur immer geförderten und nie verstandenen Tochter. Annie Ernaux‘ Werk von 1983 steht am Anfang der französischen autobiographisch-soziologischen Literatur, deren hierzulande bekanntester Vertreter Didier Eribon ist.

 

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Klassistisches Theater

Jetzt, wo das Thema „Klassismus“ für klassenbedingte Prägung und Diskriminierung zunehmende Aufmerksamkeit bei Theaterleuten erfährt, wählte sich die neue und durch Corona in ihrer ersten Saison ziemlich ausgebremste Dortmunder Schauspielintendantin Julia Wissert „Der Platz“ für ihre erste Inszenierung im Schauspielhaus. Auf der kahlen – nicht wirklich rechteckigen – Bühne steht ein schuppengroßes blaues Haus, die vier Darstellerinnen (Antje Prust, Linda Elsner, Lola Fuchs, Marlena Keil) und zwei Darsteller (Mervan Ürkemez, Raphael Westermeier) betreten nach und nach  in grell bunten Klamotten irgendwo zwischen Abendgarderobe, Freizeit- und Arbeitskleidung (Kostüme: Mascha Mihoa Bischoff), den Spielraum (Bühne: För Künkel). Als DJ und Sängerin agiert vorne, an einem ebenfalls blauen Tischchen für den Rechner, houaïda.

Die Integration der Musikerin ins Spiel wirkt wenig konsequent, die Choreographie der Akteurinnen und Akteure setzt neben die nüchternen, abwechselnd vorgetragenen Textpartien seltsam künstliche Choreographien (Belendjwa Peter). Im ersten Drittel der 90 Minuten läuft die Inszenierung mit langatmigen Erzählungen und bedeutungsschweren Gesten ins Leere. Doch zunehmend schaffen es Ensemble und Text, die Figur des Vaters und seinen „Platz“ in Familie und Gesellschaft plastischer zu machen.

 

Eine Art Trauerspiel

Die Mischung aus kühler Sezierung der eigenen Verhältnisse und individueller Familiengeschichte – und damit auch die Nüchternheit gegenüber der eigenen Person der Erzählerin – machen „Der Platz“ nicht eben zu einer dankbaren Theatervorlage.  Angesichts des Rahmens vom Begräbnis, dem Lebensrückblick und seinem Sterben entsteht auf der Schauspielbühne durch die soziologische Analyse eine gebrochene Trauerfeier, also eine Mischung aus hohem Ernst und persönlicher Trauer. Und dies zeigt die Inszenierung auch durch das Spiel mit dem rollbaren Häuschen immer plastischer. Das leblose Gehäuse wird zum Zentrum des Trauer-Spiels.

In Gruppenaufstellungen oder dem fast ritengleichen Präsentieren blau gefärbter Gegenstände aus dem Haus wird der abwesende, gestorbene – nicht persönlich verkörperte ­– Vater in der Vorstellung der Zuschauer immer präsenter. Wenn die sechs Darstellerinnen und Darsteller die Angst des sozial verunsicherten Mannes in einer verängstigten Chorgruppe darstellen, gelingt es in dieser Familienaufstellung, zugleich soziale Betroffenheit wie kühle Analyse zu verbinden. Das in die Höhe gehobene Häuschen über den Gegenständen eines Lebens ist im Finale ein starkes Bild für diese theatrale Trauerfeier. Julia Wissert schafft eine texttreue Inszenierung, die  am Ende wirkungsvoll auf ein abwesendes Leben zurückblickt. Das ist schließlich ein sehr ernster, aber dann doch noch schlüssiger Start einer ambitionierten Intendanz im Schauspielhaus.