Foto: Sebastian Horn als Rico © Candy Welz
Text:Ute Grundmann, am 1. Oktober 2021
Rico dient gerne, eigentlich. Widerworte gibt er höchstens seiner Mutter, die nicht nur gegen seine Eignung und Aufnahme bei der Bundeswehr ist. Ansonsten ist er uniform mit Kumpels und Vorgesetzten, bis ihm jemand einredet, dass sein Vaterland vor sich selbst geschützt werden muss. Diese aktuelle Geschichte einer Radikalisierung hat Dirk Laucke zum Stoff seines jüngsten Theaterstücks gemacht und nach dem 2018 enttarnten Netzwerk aus Soldaten und Polizisten benannt: „Hannibal“.
Aktennotizen statt James Bond
Die Szenerie der Uraufführung im Weimarer e-werk ist düster, karg und bedrückend, nicht nur, weil auf der blanken Bühne ein MP-Schütze posiert. Eine mögliche James-Bond-Faszination aber schwindet schnell, auch weil Rico (Marcus Horn) zielstrebig die Zuschauer ins Visier nimmt. Der schmale, mittelgroße junge Mann ist so gar kein Held, auch nicht im vervielfachenden Video hinter seinem Rücken. In Tarnfarbenhose und dunklem T-Shirt steht er da, bald ohne Waffe, und rekapituliert für sich und uns, was er da eigentlich macht. Ein Hauptmann in Galauniform (Philipp Otto) sitzt am Szenenrand, liest und schreibt Aktennotizen.
Dass vom Publikum in den kommenden 100 Minuten der Uraufführung kein Mucks zu hören ist, liegt je zur Hälfte an Autor und Regisseur. Dirk Laucke hat schon einige Auftragswerke für das Deutsche Nationaltheater Weimar geschrieben, ist fast ein Hausautor – und reiht sich mit „Hannibal“ auch in die Kein Schlussstrich-Initiative von 15 Theatern ein. Aber auch die 17 finsteren Abende, in denen David Nuran Calis beim Kunstfest Weimar den NSU-Prozess szenisch nachstellte, sind ja noch keine vier Wochen her.
Allerdings packt Dirk Laucke allzu viel in sein Stück. Nachgeplapperte AfD-Parolen und Kraftmeiereien gesellen sich zu Abhandlungen über Recht, Staat, Gewalt; das betont schlicht-schlechte Deutsch, das Laucke einigen seiner Figuren mitgibt, zieht sich bis in Szenenanweisungen; das „A-Team“ wird herbeizitiert, nicht über die Welt, aber über Gott disputiert. Da war Neil LaButes demontierendes Neo-Nazi-Stück „Das vierte Reich“ (auch in Weimar, 2017) viel prägnanter.
Gerafft, zurückgenommen, radikalisiert
Regisseur Sebastian Martin hat „Hannibal“ klug gerafft und zurückgenommen. Danny (Martin Esser) lallt weniger Parolen, Schmitti (Bastian Heidenreich) und Rico sind nicht so stark als smarte-tumbe Gegensätze gezeichnet. Natürlich „sitzen“ militärischer Gruß und Gesten, werden aber weder ausgestellt noch lächerlich gemacht; strammes Seilspringen und Liegestütze stehen für soldatischen Drill. Die komischste Figur ist der Gala-Hauptmann, dem Zivil(es) sinnlos wie Schmuck erscheint und der seine Untergebenen „Gedöns“ gegen Uniform tauschen lässt. Aber in Martins Inszenierung radikalisiert sich nicht nur Rico, sondern auch das Ende des Stücks.
Regisseur und Ensemble geht es vor allem um jene jungen Männer (Soldatinnen gibt es hier keine), die glauben, bei der Bundeswehr den Platz erobert zu haben, den sie in der Gesellschaft nicht fanden. Aber – das traut Rico sich gar nicht, der Mutter zu sagen – sie gehören eben zum Kommando Spezialkräfte, und das bedeutet Afghanistan. Die Inszenierung belässt es bei wenigen lauten Knalleffekten; die wütend-hilflosen Schilderungen schmerzen viel mehr. Und danach kommt nicht nur für Rico die Wende. Sein Kamerad Liam (der nur in Worten und als Helm erscheint) muss, statt mit „Freischuss“ belobigt nach Hause zu kommen, Bewerbungen schreiben. Und Rico hat nach seiner Verwundung weder Beruf noch Wohnung und geht dem „Verein“ des Hannibal-Netzwerkes schnell und bereitwillig auf den ideologischen Leim.
Das ist, dicht und beklemmend gespielt, so folgerichtig wie fürchterlich –und stellt natürlich den Krieg an den Pranger. Aber auch die Frage, wie wir mit denen umgehen, die wir in den Krieg schicken und die das Glück haben, lebend zurückzukommen. Vor dem langen Applaus mussten die Zuschauer erst mal Luft holen.