Szene aus "Le Grand Macabre" am Mecklenburgischen Staatstheater

Ein Weltuntergang, der beflügelt

György Ligeti: Le Grand Macabre

Theater:Mecklenburgisches Staatstheater, Premiere:25.09.2021Vorlage:La Balade du Grand MacabreAutor(in) der Vorlage:Michel de GhelderodeRegie:Martin G. BergerMusikalische Leitung:Mark RohdeKomponist(in):György Ligeti

Ein zuversichtlicher Blick in die Zukunft und ein Aufbruch in neue Sphären verbinden sich gemeinhin mit einem Intendantenwechsel. Am Mecklenburgischen Staatstheater herrscht dagegen Weltuntergangsstimmung – und was für eine! Ganze fünf Premieren aus fünf von sechs Sparten des Hauses hat der neue Generalintendant Hans-Georg Wegner zum Saisoneröffnungswochenende aufs Programm gesetzt. Eine davon ist György Ligetis groteske Anti-Oper „Le Grand Macabre“.

Das Sujet eines Kometen, der auf die Erde zurast und sie binnen kürzester Zeit zu vernichten droht, hatte zuletzt der dänische Dogma-Regisseur Lars von Trier mit seinem Film „Melancholia“ in eindrucksvollen Bildern und schwermütigen Wagner-Klängen eingefangen. Ligetis Bühnenstück hingegen wurde bereits 1978 uraufgeführt, fußt auf einem Drama von Michel de Ghelderode, einem Meister des absurden Theaters, und ist schon jetzt ein Klassiker des (nach-)modernen Musiktheaters.

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Grandiose Reizüberflutung

Der neue Operndirektor und Hausregisseur des Mecklenburgischen Staatstheaters Martin G. Berger lässt denn auch keine Zweifel aufkommen, dass der Weltuntergang keinen distanzierenden Blick zulässt (wie auch?) und platziert das Publikum auf der Bühne – genauer: Drehbühne – des Großen Hauses mitten im Geschehen. Im Zentrum der Rotunde himmelt „der Junge“, ein langhaariger Comic-Nerd (Martin Gerke), seinen dunklen Helden Nekrotzar (Brian Davis) an. Der abschreckend maskierte Muskelprotz im schwarzen Ledermantel kündet zuerst auf den umlaufenden Videoscreens seinen Vernichtungsschlag gegen die Menschheit an, treibt später aber auch sein Unwesen auf den fünf in die Rotunde eingelassenen Szenerien. Doch muss man um die Menschheit, die uns dort gezeigt wird, wirklich trauern?

Als Liebespaar Amanda und Amando spähen Sopranistin Cornelia Zink und Mezzosopranistin Karina Repova durch zwei Schlitze in der Videowand und leihen ihre Köpfe somit einem projizierten kopulierenden Porno-Pärchen. Auch um die Zweierbeziehung von Astradamors (Nicholas Isherwood) und Mescalina (Gala El Hadidi) ist es nicht besser bestellt: In ihrem mit Familienfotos tapezierten Heile-Welt-Wohnzimmer versuchen die Eltern des Jungen, ihre fluglahme Libido mit diversen SM-Praktiken wieder in Schwung zu bringen.

In einem mit Monitoren angefüllten Kontrollraum verfolgt derweil ein bonbonbunt ausstaffiertes Geheimpolizei-Girlie (Morgane Heyse) das Weltgeschehen von der Trump-Rede bis zur Mondlandung, während im ersten Rang des leeren Theatersaals Fürst Go-Go (Georg Bochow) und seine in Hasen- und Vogelkostümen steckenden Minister (Marius Pallesen und Sebastian Kroggel) mit angstschürenden und wutmachenden Parolen das Volk auf ihre Seite ziehen. 20er-Jahre-Flair verströmen dabei die sechs im Wortsinn federleicht bekleideten Revue-Tänzerinnen und -Tänzer – eine Reminiszenz an eine Zeit, in der man sich ausschweifend feiernd in den Abgrund tanzte.

Musikalische Höchstleistung

Diese multisensorische Reizüberflutung ist nur deshalb ein höllischer Genuss, weil jedes Element, jeder einzelne Effekt sich hier in ein stimmiges Gesamtbild einfügt. Weil das Ensemble der Sängerinnen und Sänger Höchstleitungen vollbringt und die Partitur mit immer neuen Überraschungen aufwartet. Famos hellhörig und mit bissigem Zugriff bringen die Mecklenburgische Staatkapelle und der Opernchor unter Generalmusikdirektor Mark Rohde die komplexen Klangschichtungen, rhythmischen Verschiebungen, angriffslustigen Bläserattacken und den Firnis der Streicher in Form, erweitern ihr übliches Klangrepertoire mit Autohupen, Türklingeln und Tiergeräuschen, wobei der Schall der Musikinstrumente aus dem Orchestergraben und den beiden vorderen Logen nicht immer optimal seinen Weg „in die verkehrte Richtung“ auf die Bühne findet.

Das ändert sich, als das Publikum für das letzte Viertel der Inszenierung in den Zuschauerraum umzieht. „Der Junge“, der einen Pakt mit seinem teuflischen Comic-Idol Nekrotzar schließt – Berger hat die Figur des Weltvernichters für seine Inszenierung aufgespalten – hält derweil eine feurige Rede über die Wut auf die „Lügenpresse“ und die Corona-Impfpolitik sowie die Angst vor „Ausländern“ und „Schwulen“ und wird hier erstmals aktuell-konkret: „Sie sollen den Weltuntergang dort erleben, wo sie hingehören: in Ihren roten Plüschsesseln.“

So viel sei verraten: Von einem Untergang kann am Ende nicht mehr die Rede sein. Eher darf man von einem mutigen Aufbruch in eine neue Sphäre sprechen – in einer Stadt, in der das Publikum eher die altvertrauten Klassiker liebt.