Herausforderungen des Doku-Theaters
Die theatralische „Spurensuche“ mit fünf Anfängen muss mit einigen konzeptionellen Fragen umgehen: Wie lässt sich das unüberschaubare, historische Quellenmaterial auf eine vorgegebene Spielzeit von etwa 90 Minuten eindampfen? In „Saal 600: Spurensuche entscheiden sich dura & kroesinger (so der Markenname) im Wesentlichen für eine exemplarische Perspektive, die aus den Aussagen dreier Prozessbeteiligter entsteht: Hermann Görings Vernehmung am 18. März 1946, bei der er sehr erhellend die Reichskristallnacht als Versicherungsproblem thematisiert, der bewegende Bericht der französischen Auschwitz-Insassin Marie-Claude Vaillant-Couturier und die nüchterne Bilanz des SS-Einsatzgruppenleiters Otto Ohlendorf über die Massenerschießungen an der Ostfront. Danach braucht man „keine weiteren Fragen“. Damit ist aber auch angedeutet, dass bei dieser nachdenklichen Aufführung die juristische Problematik der Nürnberger Prozesse nicht verhandelt werden kann.
Die zweite Frage zielt darauf, wie stark man an einem solch ernsthaften Ort theatralische Elemente einbinden darf/soll. Die Inszenierung schafft einen nicht scharf abgegrenzten Bühnenraum im historischen Raum (gestaltet von Rob Moonen). Vor einer funktionalen Videowand werden zwanzig helle Sperrholzwürfel unterschiedlich als Deko-Element, Sitzgelegenheit oder Redepulte arrangiert. Viele weiße Papierstapel werden im Saal verteilt, aufgetürmt, zum Einsturz gebracht oder in die Luft geworfen. Das fünfköpfige Ensemble (Anna Klimovitskaya, Stephanie Leue, Adeline Schebesch, Nicolas Frederic Djuren, Janning Kahnert) bewegt sich trotz deklamatorischer Hauptarbeit in spätsommerlicher Alltagskleidung, legt Trinkpausen ein und verdeutlicht die mehrsprachige Atmosphäre des historischen Prozesses.
Erbe der Nazis
Das, was Theatermacher gerne ihrem Publikum wünschen (einen „spannenden“ Abend), wird im letzten Drittel eingelöst. Dann schlüpfen die Akteure aus ihren Sprechrollen und artikulieren eigene private Erinnerungsfetzen an die NS-Zeit. Anschließend befasst sich die Inszenierung kritisch mit den Misserfolgen der weiteren Entnazifizierung nach 1949 und illustriert in bestem Brecht’schen Sinne („Der Schoß ist fruchtbar noch …“) durch einen langen Lauftext an der Videowand die ungebrochene rechtsradikale Tradition in Deutschland.
Bei den Nürnberger Prozessen hat man 1945 in dem erstaunlicherweise fast unzerstörten Justizpalast Platz für knapp 400 Pressevertreter und sonstige Besucher geschaffen. Bei der „Spurensuche“ 2021 erlaubt die implantierte Stahlrohrtribüne leider nur Sitzplätze für 50 Personen. Dafür wird die sehenswerte Produktion in mehreren Blöcken über die gesamte Spielzeit gezeigt. Sie ist garantiert mehr als nur ein touristischer Tipp, sie ist ein historischer Moment.