Foto: Norman Stehr in der Kammermusical-Uraufführung „Mein Kampf“ © Sebastian C. Hoffmann
Text:Tobias Hell, am 26. September 2021
Die wenigsten dürften das Buch tatsächlich gelesen haben. Und dennoch, wem schießen nicht sofort finstere Assoziationen durch den Kopf, wenn von „Mein Kampf“ die Rede ist? Adolf Hitlers Propaganda-Schrift, die neben einer schamlos geschönten Autobiografie des Führers vor allem eine Vielzahl ebenso abstruser wie widerwärtiger Hasstiraden und antisemitischer Verschwörungstheorien vereint. Dieses Werk zur Grundlage eines Musical-Abends zu machen scheint auf den ersten Blick geradezu absurd. Selbst wenn Comedy-Altmeister Mel Brooks bereits 1968 mit seinem Film „The Producers“ (deutscher Verleih-Titel „Frühling für Hitler“) einen ersten Schritt in diese Richtung gewagt hatte und die später daraus entwickelte Bühnenfassung bis heute den Rekord als Musical mit den meisten Tony Awards in derGeschichte des Broadways hält.
Klug reduzierte One-Man-Show
Derart bunt und schrill überzeichnet wie Brooks‘ Hitler-Karikatur kommt „Mein Kampf“ im Theater an der Rott nun aber nicht daher. Regisseur Malte C. Lachmann, der gemeinsam mit Komponist Dean Wilmington das Machwerk adaptierte, gestaltet das Ganze als klug reduzierte One -Man-Show im Late Night Talk-Format, bei der Hauptdarsteller Norman Stehr zum funky Intro locker das Publikum begrüßt und seine ersten kleinen Gags abfeuern darf. Gleich im Auftrittsmonolog kommt da aber auch schon die alles bestimmende Frage: Wie geht man mit Hitlers literarischen Ergüssen um? Als Persiflage im dauerhaften Charlie-Chaplin-Modus? „Nicht abendfüllend!“ Ebenso wenig wie eine aggressiv schreiende Provokation durch Affirmation.
Und so startet der Abend zunächst als ruhig vorgetragene Lesung, untermalt mit Bilddokumenten aus der Kindheit und Jugend des späteren Massenmörders. „Der junge Adolf hatte es nicht leicht … Darf man das sagen? Ist das politisch korrekt? Oder landen wir damit zu sehr in der ,Verständnis für Addi‘-Ecke?“ Die Antwort hierauf bleibt dem Publikum selbst überlassen. Nicht aber die Überprüfung der historischen Fakten, die erwartungsgemäß an mehr als einer Stelle leicht von Hitlers Eigenlob abweichen. Und auch Norman Stehr fällt im Laufe des Abends immer mehr aus der Rolle des neutralen Vorlesers und mutiert dank hoher Bühnenpräsenz zum rhetorisch geschickten Verführer, der das Publikum keineswegs nur zum Mitklatschen motiviert. Bei seinen mit unschuldigem Lächeln geträllerten Rekrutierungsparolen für den Kampf gegen die Juden gelingt es ihm sogar, einer Zuschauerin auf die Frage „Sind Sie bereit?“ ein fröhliches Nicken zu entlocken. Eine Reaktion, über die sie anschießend zum Glück selbst ein wenig zu erschrecken scheint.
Parallelen zum Heute
Gerade in solchen Momenten offenbart die Produktion jedoch ihre größten Stärken. Wenn die historische Distanz sich verflüchtigt und Parallelen zu Volksverhetzern unserer Tage überdeutlich werden. Dazu passt es dann, dass die Musik von Dean Wilmington nur selten klassischen Broadway-Konventionen folgt oder im Berlin der 1920er wildert. Da werden zwar auch mal die Comedian Harmonists zitiert, ebenso wie das in diesem Kontext beinahe unvermeidliche Deutschlandlied und Hitlers Idol Richard Wagner. Daneben entdeckt man aber immer wieder anachronistisch eingeworfene Anklänge an Synthie-Pop, ein bisschen Neue Deutsche Welle-Feeling und Lounge-Jazz.
Lachmann und Wilmington konzentrieren sich in ihrer revuehaften Text-Musik-Collage vor allem auf Hitlers Aufstieg zur Macht und gönnen dem Publikum dabei bewusst auch etliche Momente zum Schmunzeln. So etwa, wenn Norman Stehr mit trockenem Humor und stimmlicher Wandlungsfähigkeit original erhaltene Fan- und Liebesbriefe an den Führer vorträgt. Trotzdem bleiben einem die rassistischen Parolen natürlich nicht erspart, die schon in stark gekürzter Fassung für Unbehagen sorgen. Brutal herausgeschleudert und vielfach gedoppelt durch Tonzuspielungen, die sich zu einem bedrohlichen Stimmengewirr vereinen, bei dem die Worte zunehmend verschwimmen und am Ende nur noch undefinierter, blanker Hass übrigbleibt. Ein eindringliches Finale, dessen erneut zur Ruhe findender Epilog keineswegs plump den mahnenden Zeigefinger erhebt oder sich selbst auf die Schulter klopft, sondern das Publikum über den Theaterabend hinaus zum Nachdenken anregt.