Steffens Drama ist ein anthroposophischer Ideenspiegel aus den frühen 1930ern. Die eigenartige und mit eigenwilliger Individualität zwischen Spätromantik und neuer Sachlichkeit fluoreszierende Vertonung Viktor Ullmans erlebte erst 1995 in Bielefeld ihre Uraufführung. Weitere Produktionen folgten bisher nur in Hof, Stralsund, Olmütz und – gestern Abend – an der Oper Leipzig.
Abbruchhalde außerhalb der Zeit
Wenig fasslich und unaufgelöst bleibt in der aufwendigen Produktion der inhaltliche Konflikt, dass der Regent für seine – den heutigen Fortschrittsideale entsprechenden – Ziele von den Autoren an den moralischen Pranger gestellt wird. Das Ökosystem ist in Steffens Text verwundet: Bühnenbildner Stephan Mannteuffel setzt im Hintergrund der Bühne demzufolge einen Rundprospekt mit einer zerklüfteten Abbruchhalde, die größer und trostloser aussieht als das heute so schöne Leipziger Neuseenland vor der Flutung.
Die Kostüme beließ Mannteuffel im späten 20. Jahrhundert, wo sich Steffen das Geschehen vorstellte. So generiert der unaufhaltsame Fluss der Zeit eine eigene poetische Energie: Steffens Entwurf ist heute allerdings keine Science-Fiction mehr, sondern kontrafaktische Belletristik ohne Divergenzpunkt. Das intensiviert natürlich die Orientierungslosigkeit des fast pausenlos präsenten Chors (Leitung: Alexander Stessin), der mehr zu gehen als zu singen hat und erst nach dem Tod des bösen Regenten etwas ruhiger wird. Der finalen Aufforderung „Trennt euch nicht“ mittels Projektion folgt das Kollektiv nicht, es bleibt Irritation auch im Innehalten.
Macht-Gen und konturloses Ensemble
Durch Zufall erhielt der Premierenabend eine besondere Dimension: Thomas Mohr, Sänger des Regenten, saß wegen einer Verletzung im Rollstuhl und zog auf der vorderen Bühne weitaus mehr Aufmerksamkeit auf sich als der für ihn spielende Regisseur Balázs Kovalik. Die Publikumsaugen kleben an Mohr, der das Macht-Gen in der Stimme und im Rollstuhl ausspielt. Dafür entwickelte Kovalik als zukunftssicherer Technokrat keine gewaltvolle, aber charismatische Figur.
Das Dilemma betreffend der moralischen Beurteilung des Regenten bleibt, zumal alle anderen Figuren auch in ihren leidenschaftlichen Diskussionen auffallend blass und konturlos sind: Dan Karlström als Priester, Kay Stiefermann als Techniker, Stephan Rügamer als Künstler, Sebastian Pilgrim als Wärter beziehungsweise Greis, Martin Petzold als Ausrufer. Sie agieren wie unter physischem und akustischem Smog. Diese Atmosphäre belastet bis zum Schluss – und da überrascht, dass Ullmann mit dem Sturz des großen Diktators keine utopische Klimawende einleitet. Humanistisch legitime Leitbilder wie das „Fidelio“-Finale hatte er ja.
Bedrückend und unverbindlich
Kovaliks Inszenierung gewinnt in den anti-dramatischen Details. Seltsam teilnahmslos lauschen die Massen dem Bericht des Technikers vom kranken Planeten Erde und seinem Eingeständnis, den technischen Fortschritt und die Isolation im Raum nicht zu verkraften. Zur Speisung der Hungernden fällt Obst – und natürlich fragt sich ein Publikum im Jahr 2021, ob das Nervengift in der Basisnahrung aus kranken Agrarflächen oder chemischen Zusätzen kommt.
Steffens Text und Ullmanns Musik sind also paradigmatisch nicht nur im Kontext der „Weltanschauungsoper“ des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch einer „abgedrehten Science-Fiction“, welche „ein ganz traditionelles und teilweise sogar für diese Zeit rückständiges Geschlechterbild“ beinhaltet (Kristin Platt in der Projektgruppe zu „deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er- und 1930er-Jahre“ der Universität Bochum 2019). Einen Fortschritt im Sinne ihres Weltbilds stellt Steffens und Ullmanns anthroposophische Oper „Der Sturz des Antichrist“ gegenüber Rudolf Steiners bevorzugten Musiktheater-Werken „Die Zauberflöte“ und „Parsifal“ insofern dar, dass es keine einzige weibliche Solopartie gibt und Frauenstimmen nur im Chor-Kollektiv vorgesehen sind.
Natürlich bringt das Gewandhausorchester unter dem eher umsichtig als blutvoll koordinierenden Matthias Foremny die tönenden Sinnfragen mit seidenweicher Bravour zum Klingen. Das wirkt so berückend wie unverbindlich, selbst wenn der 1944 in Auschwitz ermordete jüdisch-stämmige Viktor Ullmann im Preislied des Technikers nicht auf eine Reminiszenz an das „Meistersinger“-Preislied des Antisemiten Wagner verzichtet. Im Disput über Tod und Wiedergeburt atmet der Orchestersatz im „Sturz des Antichrist“ einen Glanz wie bei Richard Strauss, dessen Radius allerdings nicht bis zu den Stimmen von Pilgrim, Karlström und Stiefermann reichen soll. Mit dieser musikalisch wie szenisch eindrucksvollen Wiedergabe entzieht sich die Oper Leipzig einer Meinungsbildung zum Text und einer Musik, die mit nur selten dissonanten Harmonien am eigenen Wohlklang scharrt.
Starke Ästhetik, wenig Aussage
Die wegen Corona aus dem Frühjahr 2020 verschobene Premiere des „Bühnenweihefestspiels“ fand just am Vorabend der Bundestagswahl 2021 statt. Bei „Der Sturz des Antichrist“ entsteht der nämliche Eindruck wie bei begründbarer Wissenschafts- und Ökologiekritik von Seite einer Partei, deren Grundsatzprogramm man nicht uneingeschränkt zustimmen will. Ullmanns überaus gebildete Partitur, die ihre Rausch-Potenziale nur sekundenweise auslebt und dann sofort wieder zurücknimmt, vergrößert das Unbehagen.
Letztlich verhandelten bereits Ullmann und Steffen das Hauptthema von Yuval Noah Hararis „Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen“ (2016): Die Menschheit hat phänomenales technisches Knowhow und weiß nicht, wie sie dieses zu ihrem Besten anwenden soll. Hinter allem steht auch die Frage: Was ist das Beste? Darauf antworten Steffen und Ullmann trotz ihrer moralischen Selbstgewissheit nicht – ebenso wenig wie Kovalik und Foremny in der Oper Leipzig. Fazit des Premierenabends vor der Bundestagswahl 2021: bestechende Ästhetik, gute Konditionsvoraussetzungen für das Mammutprojekt Wagner 2022 bei gleichzeitig vollkommener Rat- und Positionslosigkeit betreffend inhaltliche Anliegen. Langer Applaus.