Foto: Ensemble des Stuttgarter Schauspiels in "Ökozid" © Julian Baumann
Text:Michael Laages, am 25. September 2021
„Scheitern als Chance“ – das Motto von Christoph Schlingensiefs legendärem Polit-, Partei- und Wahl-Projekt „Chance 2000“ hat „Die Partei“ des Satirikers und Europa-Abgeordneten Martin Sonneborn wenige Tage vor der Wahl auf Plakaten der Kanzlerkandidatin der Grünen verpasst. Inwiefern das zutrifft, wird sich am Wahlabend erweisen – etwa dann, wenn die Kandidatin Vize-Kanzlerin werden sollte in irgendeiner Koalition. Selbst das würde ja vielen prompt als „Scheitern“ gelten – was unter anderem daran liegt, dass gerade im Klima-Diskurs die Ziele aktuell derart hochgelegt werden, dass sie kurz- und mittelfristig eher unerreichbar sind für die Politik im Alltag.
Die immer sehr lauten Strategien der Freitagsbewegung für die Zukunft tun das Ihre dazu. Fundamental, um nicht zu sagen: fundamentalistisch, setzen sie das Klima-Ziel über alles andere – und das kann nur scheitern. Und ein Theater, das das Demo-Spektakel vor der eigenen Haustür auf die Bühne (und in den Zuschauerraum) zu bringen versucht, scheitert absehbar mit. So wie jetzt am Stuttgarter Schauspiel, wo sich drinnen im Theater die Freitags-Demo aus dem Schlossgarten inhaltlich fortsetzte. Die „Chance“ ist da noch nicht in Sicht.
Vom Fernsehen auf die Bühne
Im vorigen Jahr hatten Dokumentar-Filmer Andres Veiel und Ko-Autorin Jutta Doberstein für die ARD den Film mit dem herausfordernden Titel produziert: „Ökozid“. Auch vom „Genozid“ – vom Völkermord also – spricht darin (wie auch jetzt im Theaterstück, das nach dem Film entstanden ist) die aktivistische Wortführerin, wenn sie verantwortliche deutsche Politikerinnen und Politiker vor ein Tribunal zerren will, um sie klimapolitischer Versäumnisse anzuklagen, die irgendwo anders auf der Welt kollektiv mitverantwortlich seien für Umwelt-Katastrophen. Etwa für Erdrutsche wie dem, von dem zu Beginn der Stuttgarter Premiere Yvonne Aki-Sawyerr berichtet, Bürgermeisterin von Freetown in Sierra Leone.
Auch zur Eröffnung der jüngsten Ausgabe des Theaterfestivals „Theaterformen“ in Hannover bemühte sich ja eine Umwelt-Anwältin aus Bangladesch darum, den Zusammenhang zu beschreiben zwischen nicht bewältigten Umwelt-Problemen hierzulande und zerstörerischen Überschwemmungen bei ihr Daheim; und also den noch eher schwammigen Begriff der „Klimagerechtigkeit“ zu definieren. Bei Doberstein und Veiel (in Film und Theaterstück) fordert eine Koalition von 31 Opfer-Staaten in näherer Zukunft, genauer: im Jahr 2034, allein von der kleinen, aber immer noch vergleichsweise reichen Bundesrepublik 60 Milliarden Euro Entschädigung – pro Jahr. Frau Meybach, die lautere von zwei Umwelt-Anwältinnen vor einem nicht näher bezeichneten Gericht, will neben der anwesenden Ex-Kanzlerin Angela Merkel (dann 80 Jahre alt) auch den inzwischen 90-jährigen Alt-Kanzler Gerhard Schröder vorladen, notfalls in Handschellen … Dessen Vorgänger Helmut Kohl kann sie ja nicht mehr vor den Kadi zitieren.
Eine komplizierte Anklage
Ein Anwalt vertritt die deutsche Regierung, die 2034 im Amt ist. Wer sie stellt, wird nicht erzählt. Auch die dramatische Vorgeschichte des Tribunals fällt im Theater flach: ganz Holland steht (im Film) schon unter Wasser, und der Internationale Gerichtshof, der Deutschland anklagt, musste ins Land der Beklagten umziehen. Die Inszenierung des Stuttgarter Schauspielchefs Burkhard C. Kosminski suggeriert eher eine Verhandlung vor einer Art Bundesverfassungsgericht, wo ja auch Kläger- und Regierungs-Anwälte aufeinandertreffen. Zwei zentrale Komplexe werden aufgerufen: die Kohle- und Emissionspolitik, deren zentrale Irrtümer und Ungereimtheiten in die Ära Schröder fallen, und die Verkehrspolitik der Merkel-Regierungen.
Zeugen treten auf: Eine schon schwer tatterige Fraktionsfrau der SPD aus Schröder-Zeiten, die zugleich Beraterin für den schwedischen Vattenfall-Konzern gewesen war, und ein Schröder-Berater, der alle Inkonsequenzen in dessen Energiepolitik ans Licht zerrt. Zum Auto- und Verkehrskomplex sind (in Stuttgart sehr nahe liegend) Zeugen aus dem Daimler-Konzern gefragt – ein „überlebender“ Ingenieur, der vom Verschwinden des Unternehmens unter dem Tesla-Dach berichtet, sowie ein Manager, der berichtet, durch welche strategischen Fehler der Unternehmensführung es dazu kommen konnte, dass jetzt (im Jahr 2034) nur noch wenige Menschen dort arbeiten, wo früher viele Zehntausend Mitarbeiter schafften … Aus EU-Sicht übrigens liest ausgerechnet ein aus Viktor Orbans Ungarn nach Brüssel entsandter Euro-Bürokrat den Deutschen die Leviten – auf Ungarisch, weil Schauspieler Gabor Biedermann ungarische Wurzeln hat.
Und Angela Merkel? Hört sich alle Vorwürfe sehr nachdenklich an – und beschwört zum Schluss (als unter Anwältin und Anwalt ein Vergleich ausgehandelt wird, von dem die 31 Kläger-Staaten möglichst nichts wissen sollen) die Verantwortung der Justiz: weil Gar-nichts-tun keine Option mehr sein dürfe.
Langweilige Szenerie
Der „Modellversuch“ von Doberstein und Veiel ist auf der Bühne ein Stück vor Gericht. Und Kosminskis Team weiß sehr wohl, dass sich seit „Die zehn Geschworenen“ und „Zeugin der Anklage“ im vorigen Jahrhundert nicht viel geändert hat und die Attraktivität von Spielvorlagen dieser Sorte überhaupt nicht zugenommen hat. Was jedes neue Nicht-Stück aus der routiniert-populistischen Schirach-Schmiede belegt. Darum darf (oder muss) das Ensemble mächtig auf die Tube drücken: Josephine Köhler, die die Verzweiflung der immerfort erniedrigten und beleidigten jüngeren Generation wie unter Folter herausschreit (und später auch noch singt), Reinhard Mahlberg als Schröder-Berater und Gabriele Hintermaier als SPD-Seniorin am Stock sowie die übrigen Zeugen. Auch der Rest vom Gerichtsquartett versucht, die bloße Spiel-Funktion durch immer ein bisschen zu viel an Energie zu kompensieren: Anke Schubert als Richterin sowie Marietta Meguid und Sven Prietz als kungelnde Anwälte, die schlussendlich am Vergleich stricken. Kurzum: Schauspielerisch gibt der Abend rein gar nichts her.
Nicole Heesters in der Rolle als Kanzlerin, dem Stuttgarter Hausherrn Kosminski seit Langem verbunden, verlässt sich immerhin auf die distanzierte Haltung erlebter Verantwortung – selbst wenn gerade auch ihre Zeit im Amt zerpflückt wird. Nicht wirklich überzeugend ist die Volte zum Schluss, wenn sie sich quasi dem Klima-Aktivismus anzuschließen versucht – als Vorspiel zur legendär-anmaßenden „How dare you!“-Gardinenpredigt von Fräulein Thunberg in New York, die den Abend beschließt, während die Szenerie per Video in die Unterwasser-Welt absinkt.
Theater als Wahlwerbung?
Vorher sind Tausende leerer Plastikflaschen auf die Bühne geregnet, weil das Gerichtsambiente trotz Video-Zuspiel natürlich recht langweilig wurde … und das Ensemble verfällt für kurze Zeit ins Kasperl-Theater. Die Flaschen tragen übrigens keine Etiketten – um keinen Produzenten zu verärgern? Eins ist klar: Das Theater will die Muskeln mächtig spielen lassen an diesem szenisch extrem unergiebigen Abend; und von der offenen Wahl-Empfehlung 36 Stunden vor Öffnung der Wahl-Lokale ist es nicht weit entfernt. Wie es wohl reagieren wird, wenn die hochfliegenden Postulate in Veiels „Modellversuch“ wie bei Demonstrantinnen und Demonstranten vor dem Haus nicht einzulösen sein werden? Wird das „Scheitern als Chance“ begriffen werden?
Der „Ökozid“ jedenfalls bleibt sicher noch lange auf dem Stuttgarter Spielplan.